Wenn ihre Kollegen beim Essen in der Kantine von Mer-cedes-Benz über ihre Arbeit reden, kann es passieren, dass Dagmar Steinbrecher mit ihren Gedanken ganz woanders ist – zum Beispiel im Schützengraben. Was absurd klingt, ist durchaus plausibel: Die 49-Jährige ist Malerin und Installationskünstlerin und greift in ihren Werken oft historische Themen auf.

Erster Weltkrieg, der Holocaust, politisch Verfolgte, deutsch-deutsche Geschichte – unter dem Künstlernamen Dagmar Calais begibt sie sich in längst vergangene Zeiten. Das Interesse kommt nicht von ungefähr: „Ich bin in einer Arbeiterfamilie aufgewachsen“, erzählt die gebürtige Bremerin. „Meine Eltern haben den Krieg miterlebt, der ihnen manche Chance verbaut hat.“ Schon als Kind war sie bei Ostermärschen dabei, auf den Schultern ihres Vaters. Neben seiner Arbeit als Tischler beim Autohersteller Borgward engagierte er sich im Betriebsrat.

„Politisches Denken, sich für andere einsetzen und sich einmischen, wenn etwas schiefläuft – das hat mein Vater mir vorgelebt“, sagt Steinbrecher. „Und das spiegeln auch meine Arbeiten und mein Wesen wider.“

Nach dem Schulabschluss als Jahrgangsbeste standen ihr alle Wege offen. Von Abitur und Kunst wollten ihre Eltern jedoch nichts hören; sie sollte arbeiten und etwas „Solides“ lernen. So absolvierte sie eine Lehre zur pharmazeutisch-technischen Assistentin und machte nebenbei ihr Fachabitur. Mit dem Job in der Apotheke „todunglücklich“, sah sie sich schon bald nach Alternativen um.

Mercedes-Benz kam ins Spiel. Hier hatte ihr Vater inzwischen angeheuert. Warum nicht bei dem Autobauer ins Labor gehen? Der Schritt gelang. Mittlerweile blickt sie auf 28 Jahre Erfahrung bei Mercedes-Benz zurück. Angefangen hat sie im Lackbereich, heute sorgt sie als Verfahrenstechnikerin dafür, dass die Fahrzeuge frei von Rost und Oberflächenschäden bleiben.

Auch wenn ihr Herz für Technik und ihren Beruf schlägt und sie die „schönen Autos“ ihres Arbeitgebers liebt, sieht sie ihre Berufung in der Kunst. Ihre eigene Bildsprache entwickelte sie unter dem Einfluss des Berliner Malers Hans-Hendrik Grimmling und des Bremer Kunsthistorikers Chris Steinbrecher, der heute ihr Ehemann ist.

Ihre ersten Bilder wirkten brav, kontrolliert, mädchenhaft. Erst nach und nach ging Calais aus sich heraus, trug Farben großflächig auf, wagte sich an große Formate und Rauminstallationen heran. Neben historischen Themen sind es Landschaften und die Einflüsse der Industrialisierung, die die Künstlerin beschäftigen und die sie in Ausstellungen im In- und Ausland umsetzt. Calais: „Ich will Räume für Assoziationen schaffen und Erinnerungsarbeit leisten. Schließlich lernen wir nur, wenn wir nicht vergessen.“

Die zwei Welten, zwischen denen sich Dagmar Steinbrecher/Calais bewegt, befruchten sich gegenseitig. So ist ihre Kreativität auch bei Mercedes gefragt. Als vor einigen Jahren für einen Event im Kundencenter etwas Besonderes für die Gäste gesucht wurde, malte sie kurzerhand rund 300 kleine Bilder mit Blumenmotiven: „Das Unternehmen gibt mir sehr viel Freiraum. Dafür leiste ich im Gegenzug gern auch einen zusätzlichen Beitrag.“