Bremen/Hamburg/München. Unbemerkt schleicht sie sich ins Leben – und krempelt den Alltag Betroffener komplett um: Online-Spielsucht, Online-Wettsucht.
Schätzungsweise jeder Fünfte, der per Handy etwa Sportwetten tippt oder seinen Einsatz in Online-Casinos setzt, gilt mittlerweile als suchtgefährdet. Seit dem Corona-Lockdown könnte sich das Problem noch weiter verschlimmern.
„Die vergangenen Monate waren womöglich der ideale Nährboden, um eine Spielsucht zu entwickeln“, sagt der Glücksspiel-Experte und Psychologe Tobias Hayer von der Universität Bremen. Seine Beobachtung aus dem Corona-Alltag: „Wer offline wettet, mag die zeitweilige Schließung der Spielhalle oder des Wettbüros als Chance für den Ausstieg gesehen haben. Vor allem Online-Zocker hingegen scheinen ihr Spielverhalten intensiviert zu haben.“
Gamingzeit hat sich bei Jugendlichen massiv erhöht
Mehr Langeweile und mehr Gelegenheiten: Auch die Gamingzeiten von Kindern und Jugendlichen wurden im Lockdown massiv in die Höhe getrieben.
Sie waren allein im Mai mit Spielen wie Fortnite, Roblox und Co. werktags durchschnittlich 139 Minuten online, 75 Prozent mehr als im Herbst 2019. Das zeigt eine aktuelle Studie von Suchtexperten am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). Sie warnen: „Es gibt Anzeichen dafür, dass sich die Computerspielsucht durch die Pandemie sogar noch ausweiten könnte.“
Schon vor Corona galt das Gamingverhalten von fast 700.000 Kindern und Jugendlichen als bedenklich
Was die Zahlen der Studie im Alltag bedeuten, erlebt Sven Frisch derzeit bei seiner Arbeit als Therapeut bei der Suchtberatungsstelle der Caritas in München.
Dort häufen sich die Anfragen besorgter Eltern, die fürchten, dass ihre Kinder Klick für Klick in die Sucht abgleiten: „Am Anfang des Lockdowns waren sie noch froh, dass die Kinder beschäftigt waren. Doch das ist gekippt. Viele wissen mittlerweile nicht mehr, was sie machen sollen.“
Jeder Zocker kann sich selbst mal fragen, ober er ein schlechtes Gewissen hat
Ob Spiel- oder Wettsucht: Tatsächlich ist es oft schwer für Freunde, Familie und Bekannte, eine beginnende Abhängigkeit zu erkennen. „Im Zweifel bekommt ja keiner mit, dass jemand es übertreibt“, sagt Psychologe Hayer. Es gebe kaum äußere Anzeichen: Online-Süchtige haben ja keine Alkoholfahne oder Einstichstellen wie Drogenabhängige: „Das ist das Gefährliche an dieser verborgenen Sucht.“
Das Phänomen gilt für den Zocker, der bei der Fußballwette oder beim Online-Poker ständig für den nächsten Kick sein Limit erhöht, ebenso wie für den exzessiven Gamer, der auf der Jagd nach einem höheren Level die Nacht zum Tag macht. Beide können ihre Sucht überall - mit PC, Handy oder Spielkonsole – jederzeit und oft anonym befriedigen.
Dennoch gibt es Wege, der Abhängigkeit zu begegnen. Manchmal könne es schon helfen, wenn etwa ein Sportwetter sich selbst die Frage stellt, ob er beim Platzieren der Wette ein schlechtes Gewissen hatte. „Wenn er das bejaht, dann deutet das auf eine Fehlentwicklung hin“, erklärt Hayer. Und Therapeut Frisch ergänzt: „Der erste Schritt aus einer Online-Sucht heraus ist, sein Problem vor Familie und Freunden offenzulegen.“ Dann lassen sich Regeln festlegen - etwa für die Nutzung des WLAN oder der Spielkonsole.
Wer den Punkt erreicht hat, sich sein Problem einzugestehen, wird nicht allein gelassen. Hayer: „Es gibt hier ein gut ausgebautes Netz an Hilfsangeboten. Am Anfang reicht oft schon das Gespräch mit einer Spielsucht-Hotline.“
Warnsignale beginnender Abhängigkeit
Stunden vor dem Computer: Stark Abhängige verbringen zwischen acht und zehn Stunden vor dem Computer, so eine Auswertung des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters am UKE in Hamburg. Für den Münchner Therapeuten Sven Frisch ist aus der Praxiserfahrung heraus die Grenze zu einer beginnenden Sucht schon bei fünf Stunden täglich erreicht. Ähnlich exzessive Spielzeiten deuten auch auf eine Wettsucht hin.
Wetteinsatz wird ständig erhöht: Beim Wetten ist es nicht nur die verbrachte Zeit vor Computer oder Smartphone, sondern auch die Höhe der Einsätze. Tobias Hayer, Bremer Psychologe: „Da sich zunächst die Verluste häufen, glaubt man, immer höher und öfter spielen zu müssen, um den Verlust wieder auszugleichen.“ Oft werden Familienangehörige oder Freunde um Geld gefragt, um den Wetteinsatz erhöhen zu können.
Rückzug von der Realität: Süchtige ziehen sich aus dem Leben zurück. Jugendliche vernachlässigen Schule, Ausbildung und Freundschaften. Neue Freunde gibt es nur online. Gespräche verlaufen eher flüchtig und oberflächlich.
Verhalten ändert sich: Spricht man Süchtige auf ihr Verhalten an, reagieren sie oft launisch, wütend, aber auch ängstlich. Jugendliche verhandeln oft lang und vehement über die Länge der Spielzeiten.
Ausweiten der Wettarten: Wer gefährdet ist, eine Wettsucht zu entwickeln, spielt nicht nur immer öfter, er weitet auch die Wettarten aus, um seinen Kick zu bekommen. Sportwetten im Fußball werden etwa durch Wetten auf E-Sportereignisse ergänzt bis hin zu ganz anderen Sportarten wir Pferderennen.