Köln/Hamburg. Wir lieben Ordnung und Struktur. Unnützes wegwerfen, bewusster konsumieren, mit weniger zufrieden sein – eine minimalistische Lebensart gewinnt zunehmend an Bedeutung. Das zeigt beispielsweise eine Umfrage des Markt- und Meinungsforschungsinstituts Yougov aus diesem Jahr. Demnach gibt immerhin jeder zweite Deutsche an, regelmäßig auszumisten: wenigstens halbjährlich (27 Prozent), monatlich (13 Prozent) oder sogar noch häufiger (9 Prozent). Wie man effektiv Schreibtisch, Zimmer, Wohnung oder auch Gemüt und Leben entrümpelt – da gibt es unterschiedliche Herangehensweisen.

Ordentliche Wohnung mit Aufräum-Coaches

Sauberkeit halten und perfekt Platz schaffen: Damit hat die japanische Bestsellerautorin Marie Kondo einen Nerv getroffen. Weltweit verkauft die 34-Jährige erfolgreich ihre Aufräum-Ratgeber, seit diesem Jahr strahlt Netflix die Serie „Aufräumen mit Marie Kondo“ aus. Darin unterstützt die Frau Folge für Folge Menschen dabei, ihr Leben von Ballast zu befreien, zu entrümpeln und Platz zu schaffen für wichtige Dinge. Inzwischen gibt es in Deutschland natürlich Nachahmer: Aufräum-Coaches, die mit Hausbesuchen, Ratgebern, Blogs und Videos zum Thema Geld verdienen. Einen Namen haben sie auch schon: Cleanfluencer.

Bewusst leben liegt im Trend

Chaos gar nicht erst aufkommen lassen. Mit weniger Zeugs lässt sich leichter Ordnung halten, weniger ist mehr. Minimalismus ist eine Lebensart für Menschen, die nur wenige Dinge brauchen und sich auf das Nötigste fokussieren. „Dieser Trend gewinnt zunehmend an Bedeutung. Er hängt mit der Digitalisierung und der Beschleunigung des Lebens zusammen“, sagt Tristan Horx, Trendforscher am Zukunftsinstitut in Hamburg. „Die Leute suchen Entschleunigung und Klarheit. Es ist ein altes menschliches Bedürfnis, Sachen strukturiert und geordnet zu haben.“

Heißt also, dass das Thema an sich nicht neu ist. Klar, der deutsche Weltbestseller „Simplify your life“ erschien ja bereits vor fast 20 Jahren. „Aber heute treffen verschiedene Trends aufeinander“, betont Horx. „Zum einen ist das unser ökologisches Bewusstsein, das sich vor allem im Zusammenhang mit der Klimadebatte stark verändert hat: Die Leute wollen keinen Wegwerfschrott mehr.“ Es sind also moralische Beweggründe – nachhaltig leben eben. „Und zum anderen sind wir gar nicht in der Lage, unsere Aufmerksamkeit auf so viele Dinge zu richten. Das ist schlichtweg zu anstrengend für unsere Psyche.“

Die Wirtschaft findet Antworten

Neben diversen Putz-Coaches verdienen kleinere Dienstleister mit der Suche nach Klarheit Geld. Im Angebot sind Ratgeber, Kurse, Blogs, Apps und Hilfsmittel für ein strukturiertes Leben wie „Bulletjournals“ – im Grunde nichts anderes als die guten alten Terminkalender. Wie beliebt das Thema ist, wird vor allem im Buchmarkt sichtbar: „Ratgeber zum gesamtgesellschaftlichen Trend Minimalismus erleben einen großen Aufschwung“, sagt Carlo Günther von der Interessensgemeinschaft Ratgeberverlage. „Sie helfen dabei, sich auf das Wesentliche zu reduzieren. Es geht um Wohnen, Kochen, Leben, Zeitmanagement, als Bildband oder als Schritt-für-Schritt-Anleitung.“

Teilen oder gar nicht erst besitzen

Ein weiteres Resultat dieser bewussteren Lebensart ist die „Sharing-Economy“. Das Mantra: Man muss nicht alles besitzen, was man braucht – teilen geht auch! Wie die Industrie darauf antwortet, zeigt schon das Straßenbild in Städten: E-Scooter, Lastenfahrrad, Car to go.

Es gibt aber auch „Tiny Houses“, Häuser, die so klein sind, dass sich deren Bewohner auf das Nötigste beschränken müssen. „Tiny Houses sind ein Nischenprodukt, das aufgrund wachsender Nachfrage inzwischen auch einzelne Handwerksbetriebe in ihr Portfolio aufgenommen haben“, sagt Fridtjof Ludwig vom Bundesinnungsverband des Tischler- und Schreinerhandwerks. Und dann gibt es noch die Menschen, die zeitweise gar keine feste Wohnfläche wollen. „Dachzeltnomaden“ verstauen ihr ganzes Hab und Gut in ihrem Pkw, geschlafen wird auf dem Autodach. Unnötiger Ballast? Weg damit.

Manche treiben den Konsumverzicht auf die Spitze, mit dem sogenannten Frugalismus. Hergeleitet vom Wort „frugal“, das so viel heißt wie: bescheiden oder einfach. „Frugalisten verfolgen das Ziel, möglichst früh finanziell unabhängig zu sein“, erklärt Trendforscher Horx. „Sie sparen also, so viel es geht, um schnell in den ,Ruhestand‘ zu kommen. Frugalisten legen jeden Cent zur Seite, konsumieren sehr bewusst und versuchen, clever zu investieren.“

Achtsamkeitskurse gegen Stress

Aber es geht nicht nur um die praktische Ordnung in Haus und Garten oder auf dem Schreibtisch, sondern auch um die innere psychische Struktur. Dabei hilft zum Beispiel die viel beschworene Achtsamkeit. Die Idee ist, mithilfe von Meditation ein klares Bewusstsein für das Hier und Jetzt zu schaffen. Das soll helfen, sich nicht vom Wesentlichen ablenken zu lassen und letztendlich stressfreier zu leben. „Die Nachfrage nach Angeboten zur Stressreduzierung nimmt stetig zu“, bestätigt Sabine Voermans, Leiterin Gesundheitsmanagement bei der Techniker Krankenkasse. „Achtsamkeitskurse oder Seminare zur Stressbewältigung sind ein guter Ansatz, nachhaltig für mehr Ruhe und Gelassenheit im persönlichen Alltag zu sorgen.“ Und die Arbeitswelt reagiert: Unternehmen richten für ihre Mitarbeiter Meditationsräume ein oder nehmen Achtsamkeitskurse in ihr betriebliches Gesundheitsmanagement auf.