Leipzig. Unser Gehirn ist unglaublich komplex: Billionen Synapsen vernetzen Milliarden Nervenzellen – und machen so unser Denken und Handeln erst möglich. Die Schaltzentrale im Kopf kann sich, ganz ähnlich wie ein Muskel, entwickeln, und zwar bis ins hohe Alter: Das Hirn kann stärker werden. Oder erschlaffen. aktiv sprach mit Professorin Dorothee Saur darüber, wie wir geistig fit bleiben können. Sie ist leitende Oberärztin am Universitätsklinikum Leipzig und Expertin der Deutschen Gesellschaft für Neurologie.

Warum ist mentales Training, volkstümlich „Gehirnjogging“, eigentlich so wichtig?

Nur wenn wir unser Gehirn fordern, aktivieren wir neue Verbindungen zwischen den Nervenzellen, die ein Netzwerk bilden. So schaffen wir durch mentales Training eine Art geistige Reserve. Die hilft auch im Fall, dass unser Gehirn erkrankt: Bei einem Hirnabbau kann man dann den Verlust länger kompensieren.

Wann sollte man mit Gehirnjogging anfangen?

Das ist keine Frage des Alters. Wer im Beruf oder als Rentner sehr aktiv ist, wer Familie hat, wer Hobbys pflegt, der hat meistens automatisch genug „Training“. Wer aber einen Routinejob ausübt und dann nach Feierabend nur auf der Couch sitzt und fernsieht oder streamt, der sollte schleunigst etwas tun! Und das gilt schon in jungen Jahren.

Was passiert denn, wenn man das Gehirn unnötigerweise schont?

Es baut mit der Zeit ab. Das ist ähnlich wie bei einem Muskel, der nicht trainiert wird. Durch geistige Inaktivität lösen sich Synapsen im Gehirn. Die Folge ist ein schlecht vernetztes Nervensystem. Die Gedächtnisleistung nimmt ab und ebenfalls die Fähigkeit, Probleme zu lösen.

Also lieber möglichst viel denken …Wie kann man denn sein Gehirn trainieren?

Günstig und gut sind Kreuzworträtsel, Brettspiele, Ratespiele, Memory oder auch spezielle Handy-Apps. Wobei Denksport in der Gruppe mehr Spaß macht. Und weil wir dann miteinander kommunizieren, regt das unser Gehirn noch mehr an. Wer sich immer wieder auf Neues, Unbekanntes einstellt, aktiviert jeweils andere Teile des Gehirns, sodass viele Fähigkeiten gefordert werden. Also mal ein anderes Kochrezept ausprobieren, mal den Garten umgestalten. Oder: Mit dem Tanzen anfangen, sobald es wieder problemlos möglich ist, Tanzen fordert nämlich beides: Körper und Geist.

Professorin Dorothee Saur: „Gedächtnistraining trägt dazu bei, möglichst lange selbstständig zu leben."

Ist Bewegung nicht generell wichtig?

Klar. Ein gesundes Gehirn und ein gesunder Körper gehören bekanntlich zusammen. Wer Sport treibt wie etwa Joggen, Radfahren oder Schwimmen, der senkt auf Dauer den Blutdruck und sorgt für elastische Gefäße. Dabei bekommt man obendrein den Kopf frei, weil sich das Gehirn ausruht und neue Kraft tankt.

Gibt es auch Denkübungen ohne Hilfsmittel, für den normalen Alltag?

Ja. Gehen Sie öfter mal ohne Zettel einkaufen! Lösen Sie Rechenaufgaben, die sich stellen, im Kopf. Fahren Sie nicht mit Navi, sondern wie früher mit Karte – und versuchen Sie, sich markante Punkte entlang der Strecke zu merken. Damit stärken Sie Erinnerungsvermögen und Orientierungssinn.

Welche Rolle spielen die sozialen Kontakte?

Eine ganz große. Wer mit anderen zusammenkommt, erfährt Neues. Zuhören, reden, sich auf andere einstellen und mal die Perspektive wechseln – all das fordert Hirnleistungen, die uns rege halten. Auch so gesehen schadet die Corona-Pandemie auf Dauer der Gesundheit.

Sollten wir vielleicht mehr schlafen?

Wer am Tag geistig viel geleistet hat, der braucht auch viel Schlaf – als Faustregel: mindestens sieben Stunden. In der Nacht regeneriert sich das Gehirn. So können wir Neues verarbeiten. Wer morgens ausgeruht aufsteht, kann klarer denken.

Kann man ein durch Routine ermüdetes Gehirn eigentlich wiederauf Trab bringen?

Ja. Selbst im Alter geht das, in bestimmten Maßen. Aber: Je früher man anfängt, desto besser!

Lässt sich Demenz im Alter durch Gedächtnistraining verhindern?

Nein, die häufigste Demenz im Alter, die Alzheimerdemenz, ist in gewisser Weise schicksalhaft. Durch Förderung der geistigen Reserve kann man eine Demenz aber oft um viele Jahre hinauszögern. Schon deshalb lohnt es sich, sich möglichst regelmäßig geistig anzustrengen – um später möglichst lange selbstständig leben zu können.