Stuttgart. Ein stechender Schmerz im Rücken. Es wird immer schlimmer, Tabletten helfen nicht, und kurzfristig gibt es keinen Arzttermin. „Da ist mir Docdirekt eingefallen“, sagt Mala K. Die Stuttgarterin hatte durch eine Freundin von dem Projekt erfahren: Ärzte behandeln online. Das geht per Telefon, App oder Chat.

Mala K. hat sich die App auf ihr Smartphone geladen und bekam innerhalb von zehn Minuten eine Antwort aus dem Callcenter: Um 13 Uhr würde sich ein Arzt bei ihr melden. Per Video forderte der Mediziner sie auf, bestimmte Bewegungen zu machen, und fragte nach. „Ich habe mich gefühlt, als ob ich vor dem Arzt stehe“, so die 48-Jährige.

Docdirekt ist das erste Projekt in Deutschland, bei dem Ärzte Patienten, die sie noch nie gesehen haben, telemedizinisch behandeln dürfen. Nach erfolgreichem Start in Stuttgart und Tuttlingen gilt das Angebot seit Kurzem für Kassenpatienten in ganz Baden-Württemberg. Es ist kostenlos.

Projekt soll dem Ärztemangel entgegenwirken

Die Landesärztekammer musste dafür das Fernbehandlungsverbot lockern. Es setzt der Telemedizin enge Grenzen. „Das ist jedoch nur die formale Voraussetzung“, betont Kai Sonntag, Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung in Baden-Württemberg, die das Projekt umsetzt. Für den Start von Docdirekt brauchte es fast zwei Jahre Vorlauf: „Die Technik muss reibungslos funktionieren, und beim Datenschutz waren einige Fragen zu klären.“

 

Mit dem im April gestarteten Versuch will die Vereinigung drei Themen angehen: Den Druck auf die Notaufnahmen lindern, überfüllte Facharztpraxen entlasten und dem wachsenden Ärztemangel entgegenwirken.

Nicht nur auf dem Land fehle es an Nachwuchs, erklärt Sonntag: „Für zwei Ärzte, die in den Ruhestand gehen, brauchen wir drei neue.“ Der Grund: Junge Ärzte wünschen sich familienfreundliche Arbeitszeiten und wollen lieber angestellt sein, statt frei zu praktizieren. Statistiken zufolge arbeiten niedergelassene Mediziner im Schnitt 52,5 Wochenstunden, angestellte nur 38,5 bis 40 Stunden. Die demografische Entwicklung kommt obendrauf: Mehr als jeder dritte Arzt ist älter als 60 Jahre, allein in Baden-Württemberg werden in den kommenden Jahren 500 Hausarztpraxen keinen Nachfolger finden. Die Telesprechstunde erspart jedoch nicht immer den Gang in die Praxis. 60 Prozent der Patienten, die mit Docdirekt Kontakt aufnehmen, müssen anschließend noch zu einem Arzt. Sie werden allerdings gleich auf den richtigen Behandlungspfad gesetzt, zu einem Facharzt in der Nähe vermittelt oder ins Krankenhaus geschickt. Im Notfall kommt sofort ein Rettungswagen. Schon dadurch lassen sich unnötige Wege und Wartezeiten vermeiden.

Patienten auf den richtigen Behandlungspfad setzen

Bei den übrigen 40 Prozent reicht die telemedizinische Lösung. Erste Erfahrungen zeigen: Nicht nur ältere Patienten finden das Angebot attraktiv, jüngere nutzen es genauso. Besonders beliebt ist die Fernbehandlung bei den als Arztmuffeln bekannten Männern. „Die melden sich häufig direkt vom Arbeitsplatz aus, am liebsten per Chat“, sagt Derya Karakulak. Die medizinische Fachangestellte und ihre Kolleginnen nehmen von Montag bis Freitag zwischen 9 und 19 Uhr Anfragen an und klären Formalitäten wie die Versichertendaten und die Personalien, fragen nach Allergien, Medikamenten, Symptomen.

Diese Infos schicken sie an einen der 38 teilnehmenden Mediziner: praktizierende Ärzte, die in Zeitfenstern auch Telepatienten betreuen. Die Behandler, wie der von Mala K., wurden geschult, Krankheitsbilder am Telefon oder Bildschirm zu erkennen.

Das E-Rezept ist der nächste Schritt

Bald könnten weitere solche Projekte folgen, denn inzwischen haben auch Ärztekammern in einigen anderen Bundesländern das Verbot der Fernbehandlung gekippt. In der Schweiz machen Patienten und Ärzte längst gute Erfahrungen mit dem Teledoktor.

Auch bei Docdirekt seien die Rückmeldungen durchweg positiv, betont Sonntag von der Kassenärztlichen Vereinigung. Der nächste Schritt ist das elektronische Rezept: „Das Ziel ist ein komplett digitalisierter Prozess.“

Rezepte gegen den Mangel:

Volles Wartezimmer: Für manche Patienten wird der Arztbesuch zur Geduldsprobe. Foto: Adobe Stock
Volles Wartezimmer: Für manche Patienten wird der Arztbesuch zur Geduldsprobe. Foto: Adobe Stock

Berlin. Nach einer Prognose der Kassenärztlichen Bundesvereinigung fehlen bis 2030 in Deutschland rund 6 000 Ärzte. Das wird besonders in ländlichen Regionen spürbar, denn junge Mediziner zieht es in die Ballungsräume. Mit einem Bündel von Maßnahmen steuern die Bundesländer gegen diesen Trend:

Bayern: Um Ärzte im Freistaat für die Arbeit auf dem Land zu begeistern, hat das Gesundheitsministerium ein spezielles Förderprogramm gestartet: Mehr als 400 Mediziner sind bisher bei der Gründung einer Praxis auf dem Land unterstützt worden, die meisten davon sind Haus­ärzte. Außerdem werden Studenten gefördert, die sich bereit erklären, nach ihrem Studium auf dem Land zu arbeiten. Zum 1. Februar 2018 wurde die Förderung von 300 auf 600 Euro pro Monat verdoppelt.

Stipendien-Programme laufen auch in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, in Brandenburg sind sie geplant.

Rheinland-Pfalz lockt mit Studienplätzen: Nach den Plänen des Gesundheitsministeriums sollen künftig 10 Prozent der Medizinstudienplätze an Bewerber vergeben werden, die sich verpflichten, nach ihrer Facharztausbildung für bis zu zehn Jahre in einer unterversorgten Region als Hausarzt zu arbeiten. Das ermöglicht auch Interessenten ohne Spitzenabitur ein Medizinstudium.

Hessen: Neben vielen anderen Maßnahmen testet die Kassenärztliche Vereinigung in Hessen seit Juli den „Medibus“. Der zu einer Praxis umgebaute Linienbus soll bei akutem Ärztemangel auf dem Land die Engpässe in der Versorgung überbrücken.

Behandelt werden laut der Kassenärztlichen Vereinigung im Medibus mittlerweile rund 34 Patienten pro Tag. 690 Kontakte ­zwischen Arzt und Patienten wurden im ersten Quartal des Pilotprojekts gezählt. Das entspreche den Zahlen einer durchschnittlichen Hausarztpraxis.