Miefiges Ambiente, Antriebstechnik von gestern: Das Gros der Fähren und Personenschiffe auf Deutschlands Binnengewässern ist veraltet. Die meisten Schiffe sind seit mindestens 40 Jahren im Einsatz. Es besteht also ein enormer Modernisierungsbedarf. Zumal inzwischen hohe Anforderungen an einen energieeffizienten und emissionsarmen Schiffsbetrieb gestellt werden.

Der Verkehr (inklusive Schiffe) verursacht EU-weit fast 30 Prozent der Kohlendioxidemissionen. Die sollen drastisch heruntergefahren werden. Bis 2045 will Deutschland klimaneutral sein, also kein Kohlendioxid mehr ausstoßen.

2012 begann in Stralsund ein neues Zeitalter

Dass in Sachen Klimaschutz mehr passieren muss, erkannten die Ingenieure und Konstrukteure von Ostseestaal schon lange: Vor zehn Jahren begann die Stralsunder Firma, sich ein neues Geschäftsfeld zu erschließen – den Bau vollelektrischer Binnenschiffe für den gewerblichen Verkehr.

Das auf die 3-D-Kaltverformung von Blechen für die maritime Industrie spezialisierte Unternehmen, das im Jahr 2000 die Produktion in Stralsund aufnahm und heute einer niederländischen Investorengruppe gehört, hatte bereits vor Ausbruch der schweren Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/09 begonnen, sich neue Märkte zu suchen.

Diversität und Innovation in der Produktentwicklung

Und fand sie, wie Thomas Kühmstedt erzählt, der als Technischer Direktor bei Ostseestaal tätig ist: „Zu unserer Strategie gehört es seither, mit großer Diversität und Innovation in der Produktentwicklung und Fertigung flexibel auf wechselnde Anforderungen des internationalen Marktes zu reagieren, insbesondere im maritimen Sektor.“

Ostseestaal wurde vom reinen Zulieferer zum Hersteller komplexer Endprodukter

2012 gelang schließlich der Eintritt in einen völlig neuen Markt: mit einem Elektro-Solar-Fahrgastschiff, das ganz emissionsfrei fährt. Die „Solaaris“ wurde für den Einsatz auf dem Aasee im nordrhein-westfälischen Münster konzipiert und kann 60 Passagiere befördern.

Extreme Leichtbauweise

Bislang als Zulieferunternehmen in der maritimen Branche etabliert, trat Ostseestaal ab jetzt auch als Hersteller von komplexen Endprodukten auf. Die Stralsunder schafften es – unter anderem durch eine extreme Leichtbauweise – sicherzustellen, dass Elektro-Solarschiffe „made by Ostseestaal“ wirtschaftlich zu betreiben sind.

„Was ein starkes Verkaufsargument ist“, betont Kühmstedt. Für die Binnenschiffe wird vorrangig Aluminium verwendet. Zusätzlich zur Verringerung des Energieverbrauchs tragen etwa LED-Leuchten bei. „Unsere Schiffe benötigen im Vergleich zu konventionellen für die gleiche Stärke nur ein Viertel der Antriebsleistung.“

Neue Maßstäbe gesetzt

Das Elektro-Solarschiffkonzept überzeugt vor allem Betreiber von Fahrgastschiffen und Fähren. So baute das Unternehmen vier Fähren, die jetzt auf Berliner Gewässern verkehren und jeweils 60 Personen befördern können.

Mit gleicher Fahrgastkapazität entstanden zwei Schiffe für den Einsatz auf dem Mittellandkanal in der Autostadt Wolfsburg. Dabei setzen die Stralsunder in der Branche immer wieder neue Maßstäbe: Eine besondere Herausforderung für die Ingenieure waren der Bau der weltweit ersten Elektro-Solar-Autofähre für Binnengewässer – und eines sogenannten Seminarschiffs.

Event-Schiff bezieht seine Energie aus drei Quellen

Das vor vier Jahren an einen Berliner Auftraggeber verkaufte knapp 36 Meter lange Event-Schiff „Orca ten Broke“ fährt mit null Emissionen. Der Clou: Neben einer Photovoltaik-Anlage auf dem absenkbaren Sonnendach und starken Batterien ist der für 200 Personen zugelassene Kahn zusätzlich mit einem Generator ausgerüstet, der mit HVO-Diesel (Hydrogenated Vegetable Oil) betrieben wird. Der spezielle Kraftstoff wird aus gebrauchtem Pflanzenöl und -fett gewonnen.

Das Unternehmen muss sich mit seinen Schiffen gegen starke ausländische Konkurrenten behaupten: Nach einer europaweiten Ausschreibung beauftragte die Gemeinde Oberbillig an der Mosel Ostseestaal 2017 mit dem Bau einer elektrischen Autofähre. Das ausschließlich mit Solarenergie und Batteriestrom betriebene Schiff verbindet die Kommune mit dem gegenüberliegenden Wasserbillig in Luxemburg. Die 28 Meter lange „Sankta Maria II“ transportiert pro Fahrt bis zu 45 Personen und sechs Autos. Durch den Wegfall der vorherigen konventionellen Autofähre werden jährlich 14.000 Liter Diesel eingespart.

Neue Tochter gegründet

Das Geschäft mit E-Schiffen nimmt an Bedeutung weiter zu. Deshalb hat das Unternehmen vor drei Jahren eine neue Tochter gegründet: die Firma Ampereship.

„Mit Ampereship wollen wir uns noch stärker auf den Zukunftsmarkt emissionsfreier Schifffahrt fokussieren und als führender Anbieter etablieren“, sagt Ostseestaal-Technik-Direktor Kühmstedt, der zugleich als Geschäftsführer der Ampereship GmbH fungiert.

Neues E-Schiff mit technischen Raffinessen

Jedes neue Schiff, das die Ingenieure austüfteln, verschafft zusätzliches Know-how. „Die gesammelten Erfahrungen bringen wir in die aktuellen Projekte mit ein“, so Ingo Schillinger, verantwortlicher Manager bei Ampereship.

So hat unlängst die Reederei Bodensee-Schiffsbetriebe GmbH (BSB) mit Sitz in Konstanz (Baden-Württemberg) ein Elektro-Solar-Fahrgastschiff bestellt, bei dem es sich laut Schillinger „um eine ganz neue Leistungs- und Größendimension handelt“.

Optimierung in Sachen Strömungsverhalten

Der Katamaran erhält einen Aluminiumrumpf, der computerunterstützt in Sachen Strömungsverhalten optimiert wurde. Zudem kommen eine speziell entwickelte Steuerungssoftware für das Energiemanagement zur Anwendung, ein innovatives Magnetanlegesystem und erstmals bifaziale (zweiseitige) Solarmodule, die Energie auf ihrer Vorder- und Rückseite erzeugen können. Das 30 Meter lange Schiff kann 300 Passagiere befördern. Vorsorglich hat sich die Reederei eine Option für einen zweiten Neubau bis Ende 2022 gesichert.

Die Stralsunder haben bis heute zwölf Elektro-Solarschiffe produziert, darunter drei Schiffe für die einheimische Region: So pendelt seit Kurzem eine neue Usedom-Fähre am Stettiner Haff. Emissionsfrei überqueren auch die Rostocker im Stadthafen die Warnow. Ende Juli lieferte Ostseestaal eine vollelektrische Personen- und Fahrrad-Fähre an die Hansestadt ab. Und auf Rügens Boddengewässern verkehrt der Katamaran „Sünje“.

Auftrag aus dem Ausland

„Mit diesen Neubauten tragen Ostseestaal und Ampereship als regional verankerte Unternehmen dazu bei, auch in Mecklenburg-Vorpommern die E-Mobilität aufs Wasser zu bringen“, unterstreicht Kühmstedt.

Inzwischen gehören die Stralsunder bei Elektro-Solarschiffen nach eigenen Angaben europaweit zu den führenden Unternehmen, und in Deutschland sind sie sogar die Nummer eins. Das hat sich auch im Ausland herumgesprochen: Im Frühjahr bekamen sie erstmals eine Bestellung aus dem Ausland. Die Zürichsee-Schifffahrtsgesellschaft (ZSG) hat bei Ostseestaal gleich drei baugleiche Elektro-Fahrgastschiffe bestellt.