Ursensollen. Das mögen wir derzeit alle nicht: Gedränge und fremde Menschen, die einem dicht gegenübersitzen, etwa beim Pendeln in Bus und Bahn. „Das ist ganz natürlich“, sagt Timo Bauer (42), „nicht erst seit der Pandemie.“

Der Leiter des Rail & Road-Geschäfts der Grammer AG will da Abhilfe schaffen und zugleich etwas für die Umwelt tun. Er hat deshalb viel Herzblut in „Ubility One“ gesteckt. Das neue Sitzsystem der Firma soll die Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln angenehmer machen. Die Bauweise folgt dem Prinzip der Kreislaufwirtschaft, setzt auf recyclingfreundliches Design und Material, schont Klima und Ressourcen.

„Ich habe das aus Überzeugung getan“, so Bauer, der mit der Idee an ein EU-Projekt anknüpfte. „Ziel war ein nachhaltiges Sitzkonzept für den Nahverkehr“, so der Ingenieur. Am Standort Ursensollen (Oberpfalz) krempelte seine Einheit das Design für Passagiersitze um. Dazu tauchte es tief in die Wissenschaft.

Im öffentlichen Nahverkehr will jeder genug Abstand zu den anderen

Die Mitarbeiter nutzten etwa Erkenntnisse aus der Evolutionsbiologie, denn die Menschheitsgeschichte erklärt manches heutige Verhalten. Schon unsere Urahnen schätzten vor Jahrmillionen guten Überblick, wenn sie in der Savanne standen: So erkannten sie rechtzeitig Gefahren.

Genauso ticken wir heute noch. Wer mit den Öffentlichen fährt, lehnt sich an, sucht Schutz und Überblick, will Abstand zu anderen.

Diesen Ansatz kombinierte Grammer mit Messungen zu Fahrgastströmen in städtischen Transportmitteln und schuf für jede Aufenthaltszone eine passende Sitz- oder Stützgelegenheit. In der „Chaos-Zone“ am Ein- und Ausstieg sind dies zum Dreieck angeordnete Stelen. Der Fahrgast lehnt sich mit dem Rücken an, schaut so Mitfahrern nicht ins Gesicht. Rutscht er mit dem Po nach unten, entsteht dank Federdämpfer-Mechanik eine Mini-Sitzfläche. Steigt er aus, gleitet das Polsterteil wieder in seine ursprüngliche Position zurück. Der Platz ist bereit für den Nächsten.

Das Polster ersetzt ein Gestrick aus Hanf oder recycelten Fischernetzen

Das zweite Modell ist für kurze Distanzen und lässt sich schwenken. So muss keiner gegen die Fahrtrichtung fahren. „Der Sitz hält mehrere Produktlebenszyklen durch“, so Bauer. Der Rahmen besteht aus Aluminium, das zwar energieintensiv in der Herstellung ist. „Gewichtsersparnis und Langlebigkeit wiegen den Nachteil aber auf“, so Bauer. Obenauf kommt statt Schaumpolster ein technisches Gestrick: aus Schafwolle, recycelten Fischernetzen – oder Hanf. Bauer: „Das kann man am Ende schreddern und als Dünger nutzen.“

Ein flacher Schalensitz macht die Produktreihe komplett. Außen- und Innenhaut bilden eine sich selbst versteifende Struktur mit Luftkammern. Ein Polster ist nicht nötig, man sitzt darauf bequem, auch auf längeren Strecken.

Grammer hat bereits erste Anfragen von Kunden. Das Wissen aus dem Projekt könnte auch dem Schwesterbereich Automotive zugutekommen. „Interieur für Pkws wie Kopfstützen oder Mittelkonsolen könnte man sich nach demselben Prinzip denken.“

Nachgefragt

Wie kamen Sie zu Ihrem Beruf?

Aus Überzeugung. Als Maschinenbauer mit Faible für Bionik bin ich bei den Sitzsystemen gut aufgehoben.

Was reizt Sie am meisten?

Mit meiner Arbeit will ich die Zukunft mitgestalten. Wir müssen uns umstellen und dürfen nachhaltiges Leben nicht als Einschränkung begreifen.

Worauf kommt es an?

Auf Verbindlichkeit und Menschlichkeit gegenüber Kolleginnen und Kollegen sowie einen guten Umgang miteinander. Ein gutes Produkt ist nie das Werk eines Einzelnen.

Friederike Storz
aktiv-Redakteurin

Friederike Storz berichtet für aktiv aus München über Unternehmen der bayerischen Metall- und Elektro-Industrie. Die ausgebildete Redakteurin hat nach dem Volontariat Wirtschaftsgeografie studiert und kam vom „Berliner Tagesspiegel“ und „Handelsblatt“ zu aktiv. Sie begeistert sich für Natur und Technik, Nachhaltigkeit sowie gesellschaftspolitische Themen. Privat liebt sie Veggie-Küche und Outdoor-Abenteuer in Bergstiefeln, Kletterschuhen oder auf Tourenski.

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