Köln. Gerade stehe sie am Strand, sagt sie. Die Wellen hört man durchs Telefon, den Wind auch, und wenn sie dann sagt, hach, das sei alles so dermaßen herrlich, dann kann man das alles fast selber spüren, körperlich. Die Natur. Die Freiheit. Das Leben eben. „Auch wenn sich gerade das zuletzt ja krass verändert hat“, sagt Silke D. und seufzt in den Hörer.

D. ist Nationalparkführerin an der deutschen Küste. Normalerweise geleitet sie Touristen ins Watt – aber gerade ist nichts normal, gerade ist vor allem Corona. Urlauber sind noch keine da in den ersten Tagen des Mai, also hat sie gerade viel Zeit. Wie sie wirklich heißt und wo genau sie wohnt, will sie nicht in der Zeitung lesen.

Was für alle Menschen gilt, die in dieser Geschichte auftauchen. Und die aktiv doch erzählen wollten: von sich, ihrem Leben in dieser so merkwürdigen Zeit der Coronakrise. Was sie bedrückt. Was werden wird. Aus ihren Jobs, diesem Land, seiner Wirtschaft, aus ihnen selbst und ihrer Zukunft. Und, nicht zuletzt, was ihnen Mut macht. Hoffnung gibt.

Erfahrungen für die Zeit nach der Coronakrise

Hoffnung? „Es ist derzeit schon eine Herausforderung“, sagt Wattführerin Silke. Gut gebucht sei sie gewesen, volle Touren raus ins Watt oder die saftigen Wiesen rund um den kleinen Ort, Familien mit Kindern, manchmal Firmengruppen. Doch kurz vor der so wichtigen Ostersaison: Lockdown. Keine Einnahmen mehr, nichts, dafür Soforthilfe vom Staat. „Das traf ja nicht nur mich hier, alle im Dorf leben vom Tourismus, vom Hotel bis zum Supermarkt.“

Existenzängste aber habe sie nicht gespürt, „darüber wundere ich mich eigentlich selbst“. Wenn derzeit doch Zweifel aufkommen, dann tut sie einfach das, was sie immer tut: Ans Meer gehen, nur eben allein. „Ich arbeite dort, wo andere sonst Urlaub machen“, sagt sie. Also habe sie sich eben mal zur Abwechslung erholt, statt dauernd zu arbeiten. Und viel telefoniert. „Ich hab Dinge gemacht, die sonst oft zu kurz kommen, Freundschaften gepflegt, die man ansonsten schleifen lässt.“ Ganz ohne Arbeit aber ging es dann am Ende doch nicht: „Meine Website habe ich optimiert, damit Kunden mich im Internet besser finden, wenn die Zeiten wieder besser sind.“

Sich anders zu verhalten als sonst – für Klaus Lieb, wissenschaftlicher Geschäftsführer des Deutschen Resilienzzentrums in Mainz, ist das typisches Krisenverhalten. „Plötzlich werden andere Dinge wichtiger als vor der Krise, man legt mehr Wert auf Kontakte, soziale Aktionen sind uns wichtiger, als wir zuvor dachten.“ Ein solches Verhalten beeinflusse das Leben auch nach Bewältigung schwerer Zeiten. „Diese Erfahrungen stärken uns auch nach einer Krise – wenn wir sie beibehalten“, sagt Lieb.

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Plötzlich ungeahnte Wiedersehensfreude mit den Kollegen im Betrieb

Nach der Krise? Wie lang wird der Weg dahin? Die Nachrichtenlage zumindest klingt nach einem echten Marathon. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht immer neue Zahlen zur düsteren wirtschaftlichen Entwicklung die Laune trüben. Und auch andere Zahlen klingen so, als habe Corona dieses Land tief in den Morast geschubst: dramatisch einbrechende Steuereinnahmen, neue Schulden, Auftragseinbrüche in der Industrie, zehn Millionen Arbeitnehmer in Kurzarbeit, deutlich steigende Arbeitslosigkeit. Wer wäre da nicht insgeheim versucht, den Kopf in den Sand zu stecken?

In einem kleinen Dorf in Süddeutschland sitzen Lars und Steffen S. an einem sonnenverwöhnten Mittag im Garten unter einem mächtigen Ahornbaum. Die Stimmung ist gut, auf dem Holztisch stehen Wasserflaschen und Kaffee, die beiden wollen erzählen, wie sie diese Krise erleben. Vater Steffen, Ingenieur bei einem Autozulieferer, arbeitet derzeit im Homeoffice, nur einmal pro Woche darf er in die Firma. „Dann freue ich mich, wenigstens ein paar Kollegen zu sehen“, sagt er. Die Produktion laufe eigentlich normal weiter, nur für einige wenige Produkte sei es eng geworden, weil Teile aus dem von Corona so hart getroffenen Italien fehlten.

„Unser Fokus muss sich endlich ändern“

Sohn Lars dagegen hätte durchaus Grund zur Klage. Der Fluggeräteelektroniker musste jetzt in Kurzarbeit. Zukunftsaussichten? Ungewiss. „Ein Markt nach dem anderen ist uns weggebrochen, wie Dominosteine“, sagt er. Die beiden sitzen also inmitten ihres Blumenwiesen-Idylls und reden darüber, was sich ändern sollte, nach der Krise. Steffen S., zugleich Vorsitzender des örtlichen Turnvereins, wünscht sich, dass das Engagement der Ehrenamtler mehr gewürdigt wird. „Schließlich merken die meisten ja erst, wie wichtig Gemeinschaft ist, wenn sie plötzlich wegbricht.“ Ein generelles Umdenken sei nötig, glaubt er. „Ich hoffe, dass sich unser Fokus endlich ändert. Wir müssen uns fragen, was uns wie viel wert ist.“ Muss ein Kilo Fleisch immer so billig sein? Muss es immer um den eigenen Vorteil gehen? Oder ist die Krise vielleicht am Ende ein Korrektiv? Dass er nun plötzlich am Abend viele Familien durch die Wälder streifen sieht, freut den Endfünfziger.

Deutschland wird plötzlich durchdigitalisiert

Sohn Lars geht das Herz auf, wenn er beobachtet, dass die Leute plötzlich regionale Landwirtschaftsprodukte kaufen. „Vielleicht verlassen wir endlich ausgetretene Pfade, lernen, wieder zu improvisieren, kreativ zu sein.“ So wie seine Mutter: Weil ihre im Ort so beliebten Pilates-Kurse zuletzt ja ausfallen mussten, verlegte sie die Stunden per Videoschalte ins Internet. „Am Anfang hat es ewig gedauert, bis alle ihr Bild und ihren Ton hatten“, erinnert sich Lars. Aber dann klappte es immer besser, mittlerweile ist es Routine.

Digitale Pilates-Stunden – vor einem Vierteljahr noch wäre man belächelt worden. Jetzt scheint das normal. Findet auch der Zukunftsforscher Professor Horst Opaschowski. „Deutschland wird aktuell durchdigitalisiert“, sagt der ehemalige Leiter der Stiftung für Zukunftsfragen in Hamburg. Die Krise habe die Digitalisierung in der Bevölkerung mehrheitsfähig gemacht. So werde das Skypen zwischen Enkeln und Großeltern derzeit ebenso zur „neuen Normalität“ wie das Homeoffice in der Wirtschaft.

Ein ganzes Gebäude auf links gedreht

Aber wie das eben so ist im Leben: Manchmal will man genau das, was man gerade nicht haben kann. Einfach zurück in den Betrieb etwa. Daran, das wieder möglich zu machen, arbeitet Victoria G. Und zwar unermüdlich.

Der Arbeitsplatz von Victoria G. ist ein modernes Bürogebäude in einer deutschen Großstadt, viel Glas, nette Aussicht. Nur: Wo sonst einige Hundert Kollegen arbeiten, herrscht jetzt fast überall gähnende Leere. Das soll sich nun Stück für Stück wieder ändern, und Victoria G. arbeitet als Teil einer Taskforce daran, das möglich zu machen. Keine leichte Aufgabe, sagt sie. „Wir müssen ständig schauen, wie die aktuelle Lage ist, was wir anpassen müssen, wie weit wir schon gehen können, ohne dabei die Risiken aus dem Blick zu verlieren.“ Um ein Höchstmaß an „Normalität“ herstellen zu können, hat die Taskforce das Gebäude quasi auf links gedreht. Ergebnis: Treppenhäuser wurden zu Einbahnstraßen, Hinweisschilder zum korrekten Verhalten prangen an fast jeder Ecke. Die Resonanz der Kollegen sei überwiegend positiv, sagt die Taskforce-Frau. „Wir betreiben einen hohen Aufwand, aber das Feedback motiviert. Und ich bin wirklich stolz, dass ich dabei bin und mithelfen kann.“

Zukunftsforscher: Die Krise wird zur neuen Chance

Ungekannte Muße bei Wattführerin Silke D. Die Rückbesinnung auf alte Werte einerseits, kreative neue, digitale Wege andererseits bei Vater und Sohn S. Echte Freude über positives Kollegen-Feedback bei Victoria G. - natürlich sind all das nur Mosaiksteine. Und niemand wird bestreiten, dass der Weg zurück in echte Normalität wohl steinig wird. Aber: „Die Krise macht uns stärker“, ist auch Zukunftsforscher Horst Opaschwoski sicher. Offen und überwiegend positiv nähmen die Menschen seiner Beobachtung nach die Herausforderungen dieser besonderen Zeit an, allen überdrehten „Hygiene-Demos“ zum Trotz. Opaschwoski: „Die Krise wird so zur neuen Chance für jeden von uns.“