Nürnberg/Köln. Gute Arbeitsbedingungen. Vergleichsweise sichere Jobs – selbst in Krisenzeiten. Und eine Wirtschaft, die nicht ständig durch Streiks lahmgelegt wird: Das alles ist keineswegs selbstverständlich. Hierzulande aber schon lange Fakt, vor allem in der Industrie. Das haben wir insbesondere auch der in vielen Branchen gut funktionierenden Tarifpartnerschaft zu verdanken. Das Erfolgsrezept: Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände handeln regelmäßig Kompromisse und Lösungen aus, mit denen beide Seiten auf Dauer leben können und die nicht zuletzt helfen, Arbeitsplätze zu erhalten.

Für einige Unternehmen sind die Regelungen oft zu komplex

Einige Unternehmen steigen aus der direkten Tarifbindung an Branchentarifverträge aus – oder machen von vornherein nicht mit. Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg zeigt: Der Anteil der Beschäftigten, die in Betrieben mit direkter Tarifbindung an einen Branchentarifvertrag arbeiten, ist seit dem Jahr 2000 von 60 auf 43 Prozent gesunken. 

Win-win-Situation: Von den immer wieder gefundenen Kompromissen profitieren Arbeitnehmer und Arbeitgeber.

Woran liegt das? „Befragungen haben gezeigt, dass viele Betriebe vor allem die Gehälter im unteren Lohnsegment als zu hoch empfinden“, so Hagen Lesch, Experte für Tarifpolitik am Institut der deutschen Wirtschaft. „Außerdem schreckt die Komplexität der Regelungen viele Mittelständler ab: Der administrative Aufwand, den der tarifliche Regelungskatalog mit sich bringt, ist für sie oft unverhältnismäßig groß.“

Auch bei den Gewerkschaften bröckelt die Mitgliedschaft. Langfristig droht die Gefahr, dass beide Seiten irgendwann nicht mehr stark genug sein könnten, um die Betriebe beziehungsweise die Beschäftigten effektiv zu vertreten: „Dann wäre das bewährte System der Tarifverträge, das für sozialen Frieden sorgt, nicht mehr funktionsfähig.“ 

Win-win-Situation: Von den immer wieder gefundenen Kompromissen profitieren Arbeitnehmer und Arbeitgeber.

Was also tun? Sollte der Staat etwa eine Tarifbindung vorschreiben? Auf keinen Fall, warnt Lesch: „Zur grundgesetzlich geschützten Tarifautonomie gehört die Freiheit, sich für oder eben auch gegen Tarifbindung zu entscheiden. Und es lässt sich weder theoretisch noch empirisch ableiten, welcher Tarifbindungsgrad optimal wäre.“

Einfachere und modulare Tarifwerke könnten helfen

Die erwähnte Tarifautonomie: Das ist das grundlegende Recht der Verbände und Gewerkschaften, Löhne, Urlaubstage und andere Arbeitsbedingungen unabhängig vom Staat zu regeln. Lesen Sie auf aktiv-online.de auch wie wichtig die Regeln der Tarifautonomie sind. Die Tarifpartner kennen die Situation in ihren Branchen und Betrieben besser als die Politiker und sind daher eher in der Lage, passende Lösungen zu finden.

Experte Lesch sieht die Tarifparteien selbst in der Pflicht, ihr „Produkt“ Tarifvertrag attraktiver zu machen – vor allem für den Mittelstand. „Dafür müssten die Vertragswerke wieder einfacher werden.“ Denkbar sei es auch, die Tarifverträge in Modulen zu gestalten, als Baukastensystem: Unternehmen könnten dann nur die Regelungen übernehmen, die sie für ihren Betriebsalltag tatsächlich brauchen und mit vertretbarem Aufwand umsetzen können. Die Gewerkschaften müssten da laut Lesch „etwas moderner denken“ – und sich darauf einstellen, dass die Unternehmenslandschaft sehr vielfältig ist: „Die eine komplexe Lösung passt nicht unbedingt für alle Betriebe.“

Wer aber mehr staatliche Vorgaben fordere, der müsse wissen: Je mehr der Staat übernimmt, desto verzichtbarer werden die Tarifpartner selbst. „Man würde Gefahr laufen, das deutsche Erfolgsmodell Sozialpartnerschaft auf lange Sicht abzuschaffen.“ 

Ursula Wirtz
aktiv-Redakteurin

Als Mitglied der Stuttgarter aktiv-Redaktion berichtet Ursula Wirtz aus den Metall- und Elektrounternehmen in Baden-Württemberg sowie über Konjunktur- und Ratgeberthemen. Sie studierte Romanistik und Wirtschaftswissenschaften. Später stieg sie bei einem Fachzeitschriftenverlag für Haustechnik und Metall am Bau in den Journalismus ein. Neben dem Wirtschaftswachstum beobachtet sie am liebsten das Pflanzenwachstum in ihrem Garten.

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