Köln. „Wir investieren nicht genug in unsere Autobahnen – das ist total ungerecht.“ Wie bitte? Doch, das kann man so sehen (aus gutem Grund, wie noch zu lesen sein wird). Und das zeigt schon, wie schnell es schwierig wird bei einem zentralen Thema unserer Wohlstandsgesellschaft: Gerechtigkeit.
Zwei Drittel aller Bürger, das belegen Umfragen regelmäßig, halten soziale Gerechtigkeit für besonders erstrebenswert. Selbst Ziele wie „Kinder haben“ oder „Erfolg im Beruf“ kommen auf schlechtere Werte. Bedenklich also, dass aktuell fast die Hälfte der Menschen meint, es gehe in Deutschland „eher ungerecht“ zu.
Haben wir da wirklich ein Problem? Oder funktioniert unsere Soziale Marktwirtschaft nicht doch ganz gut?
Dazu muss man wissen, dass soziale Gerechtigkeit vielerlei Dimensionen hat. AKTIV hat darüber mit Experten aus dem Institut der deutschen Wirtschaft (IW)gesprochen. Und nebenbei erfahren: Um die „Verringerung von Ungleichheit“ kümmert sich Deutschland im globalen Vergleich sehr gut – im jüngsten Ranking der Hilfsorganisation Oxfam liegen wir da auf Platz 2 von 157 Staaten.
Bedarfsgerechtigkeit – da geht es nicht nur ums tägliche Brot
Eine soziale Gesellschaft befriedigt die Grundbedürfnisse aller ihrer Mitglieder: Sie gibt das Lebensnotwendige auch denen, die selbst keinerlei Gegenleistung dafür bieten können.
Dabei geht es nicht nur darum, dass niemand verhungern oder auf der Straße schlafen muss. Der Staat hat jedem Hilfsbedürftigen das zur Verfügung zu stellen, was „für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“ nötig ist. Das machte das Bundesverfassungsgericht 2010 klar. Was dieses „soziokulturelle Existenzminimum“ in Euro und Cent bedeutet, muss politisch immer wieder neu diskutiert und festgelegt werden. Zum Beispiel, wenn es um den Hartz-IV-Regelsatz geht.
Bittere Armut ist in Deutschland sehr selten: 3,4 Prozent der Bevölkerung sind von „erheblicher materieller Deprivation“ betroffen – nur halb so viel wie im europäischen Durchschnitt.
Chancengerechtigkeit – da können wir noch besser werden
Der Staat soll ungleiche Chancen möglichst ausgleichen, allen möglichst faire Chancen auf freie Entwicklung bieten. So sollten gleichermaßen begabte Kinder dasselbe Bildungsniveau erreichen können – unabhängig vom Elternhaus. Das ist zwar noch längst nicht der Fall, wie etwa die Pisa-Schulstudien gezeigt haben. Aber: In den letzten 15 Jahren hat sich bei uns sehr viel getan, die Chancen für Kinder aus sozial schwachem Umfeld werden allmählich besser. Helfen würden zum Beispiel kostenlose Kita- und Ganztagsschulplätze für alle.
Auch später im Leben hilft der Sozialstaat immer wieder, Bildungsabschlüsse nachzuholen oder draufzusatteln. Studierenden zum Beispiel greift das Bafög unter die Arme. Auch für Berufstätige, die dazulernen wollen, gibt es vielfältige Fördermöglichkeiten (hier finden Sie dazu mehr Informationen).
Geschlechtergerechtigkeit – da hat sich schon viel getan
Für jüngere Bürger kaum vorstellbar: Bis 1977 benötigte eine Frau, die arbeiten wollte, das Einverständnis ihres Ehemanns, bis 1992 galt ein Nachtarbeitsverbot für Arbeiterinnen. Heutzutage wird vor allem über den Frauenanteil in Führungspositionen diskutiert – und über den Lohnabstand zu den Männern.
Beim Lohnunterschied zwischen den Geschlechtern, dem „Gender Pay Gap“, ist Deutschland auf den ersten Blick ziemlich ungerecht. Frauen verdienen pro Stunde im Schnitt ein gutes Fünftel weniger. Das liegt aber vor allem an Faktoren wie Berufswahl, Branche, Erfahrung im Job, Babypause(n), Teil- oder Vollzeit und so fort. Wird all das berücksichtigt, bleibt als „bereinigte Lohnlücke“ derzeit noch ein Abstand von nur etwa einem Zwanzigstel.
Verteilungsgerechtigkeit – da greift unser Sozialstaat ziemlich stark ein
Die unterschiedlichen Bruttoeinkommen, die Menschen für ihre Arbeit erhalten, werden in Deutschland gleicher gemacht – mittels der progressiven Einkommensteuer einerseits, mit Sozialleistungen andererseits. Der Staat verteilt kräftig um.
Dennoch: Die Ungleichheit der Nettoeinkommen hat bis 2005 zugenommen. Wirtschaftsforscher messen so etwas mit dem Gini-Koeffizienten. Seit 2005 ist der bei uns aber praktisch unverändert. Und er liegt auf einem im europäischen Vergleich normalen Wert.
Die Vermögen dagegen sind bei uns tatsächlich sehr ungleich verteilt. Was aber gerade auch am Sozialstaat liegt, wie IW-Forscherin Judith Niehues betont: „Bei umfangreicher sozialer Absicherung sind die Anreize zur privaten Vermögensbildung geringer. Und zugleich erschweren die hohen Steuern und Abgaben den Vermögensaufbau in der Mittelschicht.“
Generationengerechtigkeit – da geht es nicht nur um die Rente
Unser Rentensystem ist kein Sparstrumpf: Die arbeitende Bevölkerung muss jeweils auch die Renten erwirtschaften. Wer also Extras für die Älteren fordert, muss vor allem die Jüngeren zur Kasse bitten.
Die Interessen der Generationen prallen aber nicht nur bei der Rente aufeinander. Was ist uns Umweltschutz wert? Wie viel Schulden soll der Staat machen? Wie gut erhalten wir die Infrastruktur – zum Beispiel die anfangs erwähnten Autobahnen? Auch das sind letztlich: Fragen der sozialen Gerechtigkeit.
Was steht eigentlich im Grundgesetz?
- „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ So steht’s in unserem Grundgesetz. Dort ist unter anderem auch festgeschrieben, dass Deutschland „ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“ ist.
- Wie dieses sogenannte Sozialstaatsgebot aber in der Praxis von der Politik umgesetzt werden soll – das ist in der Verfassung unserer Demokratie nicht konkret geregelt.
- Präzise Vorgaben wären auch nicht sinnvoll: „Soziale Gerechtigkeit lässt sich nicht ein für alle Mal verbindlich definieren“, so die Bundeszentrale für politische Bildung. Schließlich wandele sich eine Gesellschaft im Lauf der Zeit. Der Gesetzgeber sei daher „verpflichtet, die sozialen Verhältnisse immer wieder neu zu regeln“.