München. Das Gesundheitswesen in Deutschland und Bayern funktioniert im internationalen Vergleich sehr gut. Doch es steht vor schweren Aufgaben. Das zeigt die Studie „Gesundheit und Medizin – Herausforderung und Chancen“ der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw).

Die Ergebnisse wurden auf dem Kongress des Zukunftsrats der Bayerischen Wirtschaft vorgestellt. Das Expertengremium analysiert regelmäßig wichtige Trends und Technologien und gab auf Basis der Studie Handlungsempfehlungen. Alfred Gaffal, vbw-Präsident und Vorsitzender des Zukunftsrats, betonte: „Die Gesundheits- und Medizintechnologien zählen zu Bayerns Schlüsseltechnologien und haben große wirtschaftliche Bedeutung.“ Das belegen Zahlen: Die deutsche Gesundheitswirtschaft schuf 2016 fast 260 Milliarden Euro Wertschöpfung, in Bayern waren es fast 38 Milliarden Euro.

Denn einerseits lässt sich mit neuen, digitalen Technologien in der Branche viel Geld verdienen. Andererseits wird laut Gaffal die Digitalisierung „das Gesundheitswesen effizienter machen und damit die bestehende Über-, Unter- und Fehlversorgung abbauen sowie dabei helfen, die Kosten besser in den Griff zu bekommen.“ Schon heute verschlingt das System mehr als 1 Milliarde Euro pro Tag. Doch es muss auch zukünftig finanzierbar sein, trotz Alterung der Gesellschaft.

Der demografische Wandel ist dramatisch: Bis 2035 steigt das Durchschnittsalter im Freistaat von heute 43,6 auf 46,1 Jahre (ganz Deutschland: 47,7). Das hat zur Folge, dass immer weniger Beiträge in die Krankenkassen fließen, während immer mehr Ältere Therapien und Pflege benötigen. Vor allem Volkskrankheiten werden zunehmen, so die Prognose.

Hier helfen innovative Therapien und Systeme made in Bayern. Zum Beispiel mithilfe von Datenbrillen: Wie das Münchner Start-up Munevo demonstrierte, können Menschen mit Behinderung damit per Kopfbewegung sogar einen Rollstuhl steuern.

Studien zeigen: Elektronische Gesundheitsakte schafft mehr Transparenz im Gesundheitssystem

Digitale Technologien helfen auch, ländliche Regionen besser zu versorgen. Hier sieht der Zukunftsrat etwa in der Telemedizin große Chancen, also in der „Sprechstunde“ über das Internet. Wichtig sei zudem die Einführung der elektronischen Gesundheitsakte, die die Krankengeschichte dokumentiert. Gaffal: „Sie muss umgehend eingesetzt werden.“ Der Patient kann seine Daten für jeden Arzt freigeben. Anonymisiert helfen sie, Krankheiten besser zu erforschen und Heilmittel zu finden. Das kommt allen zugute – für ein langes, gesundes Leben.

Wie das konkret in der Praxis aussehen kann, zeigten fast 50 Aussteller im Rahmen des Kongresses. Bei den Besuchern sorgten sie für den Aha-Effekt - wie etwa das Fahrrad-Ergometer des Kompetenzzentrums für Ernährung.

Es machte deutlich: Für ein Stück Salamipizza muss man gut 20 Minuten radeln, die Kalorien, die ein halber Apfel hat, trainiert man in nur 4 Minuten wieder ab. Besucher konnten den Unterschied direkt „erfahren“ – dank digitaler Technik: Mit jedem Tritt in die Pedale verschwand am Bildschirm ein Bissen der gewählten Speisen.

Von der Vorsorge und Diagnose bis hin zu Therapie, Assistenz sowie Pflege: Die Aussteller deckten die ganze Bandbreite des Gesundheitswesens ab. Der Zukunftsrat lenkte den Blick dabei auf deren Chancen und Potenziale. Aus Sicht des Rats braucht es smarte Ideen, damit Bayerns Wirtschaft auch zukünftig vorne in der Gesundheits- und Medizintechnik mitmischt.

Denn laut Studie haben technische Lösungen riesiges Potenzial. Der Markt für Gesundheit wächst schneller als die gesamte Wirtschaft im Schnitt: bei mobilen Gesundheitsanwendungen zum Beispiel bis 2020 jährlich um 41 Prozent.

Medizinische Versorgung mithilfe digitaler Technik entlastet das Personal – und führt zu besseren Therapien

Gerade digital geht vieles leichter und effizienter. Beispiel Neolexon, ein Start-up aus München: Sein Sprachtraining per Tablet für zu Hause hilft Patienten nach Schlaganfall oder Schädel-Hirn-Trauma, wieder lesen und sprechen zu lernen. Und es entlastet Therapeuten. Aus Tausenden von Wörtern erstellen sie ein individuelles Übungsprogramm. Der Patient übt, so oft er will, bekommt aus dem System direkte Rückmeldung – der Erfolg ist schneller da als nach nur einer Sitzung pro Woche in der Praxis.

Die Technik leistet gute Dienste – vor allem auch in der Pflege, wo heute bereits hoher Betreuungsbedarf herrscht, Personal aber knapp ist. Etwa die Robbe „Paro“. Der Kuscheltier-Roboter, der in knapp 50 Einrichtungen in Deutschland eingesetzt wird, regt Demente an, baut Stress und Ängste ab. Über Sensoren reagiert das niedliche Tier auf Licht, Wärme und Berührung: Ein Knuddeln belohnt er mit Augenaufschlag und Flossenwackeln.

Operationen verlaufen ebenfalls besser durch den Einsatz von robotischer Assistenz. Das System der Münchner Firma Medineering unterstützt Chirurgen bei Hals-Nasen-Ohren-Eingriffen. Der Positionierungsarm wird an den OP-Tisch geschraubt, verschiedene Roboter und Instrumente werden angeschlossen, etwa Endoskope für den Blick in den Körper. Der Arzt bedient sie per Fußpedal und hat so beide Hände für den Eingriff frei.

Auch in der Industrie gibt es technische Hilfsmittel, etwa für Mitarbeiter mit Rückenproblemen. Der Automobilhersteller Audi in Ingolstadt rüstet Betroffene mit „Exoskeletten“ aus. Sie werden am Körper getragen und erleichtern langes Stehen oder Über-Kopf-Arbeiten.

Um solche innovative Technik für die Gesundheitswirtschaft zu erfinden und erfolgreich zu vermarkten, müssen nach Ansicht des Zukunftsrats verschiedene Akteure viel enger als bisher zusammenarbeiten, auch interdisziplinär. Wissenschaftler, Mediziner und Ingenieure können so ihre Kenntnisse kombinieren.

Damit die Transformation im Gesundheitswesen gelingt, müssen alle Akteure eng zusammenarbeiten

Das zeigt das Beispiel der Universität Augsburg: Studenten des dortigen Innovationslabors für kollaborative Robotik haben sich mit der Softwarefirma C & S in Augsburg zusammengetan. Heraus kam eine Anwendung fürs Seniorenheim: Die Studenten haben einem kleinen Roboter Wege durchs Pflegeheim beigebracht. Er führt Besucher nun zielsicher zum Zimmer eines bestimmten Patienten. Dem Pflegepersonal bleibt so mehr Zeit, sich um die Bewohner zu kümmern. Der fröhlich blinkende Geselle trällert für die Senioren auch mal ein Lied aus deren Jugendtagen. Das kommt gut an, so das Unternehmen. Es erstellt zudem spezielle Software, etwa „Digitale Care“, mit dem Klinikpersonal schneller freie Plätze für die Kurzzeitpflege findet.

Wichtig ist die staatliche Forschungsförderung, so der Zukunftsrat. Innovationen müssten aber auch schneller umgesetzt werden. Erforderlich seien mehr Transparenz und ein besserer Informationsfluss auf allen Ebenen. Auch, was das Krankheitsbild von Patienten angeht. Big-Data-Analysen helfen dabei. Wenn Patienten anonymisiert ihre Krankenakte zur Verfügung stellen, können Forscher die Verläufe vergleichen, Parallelen bei seltenen Erkrankungen finden und Therapien erfolgreich planen.

So wichtig jede Therapie ist: Ebenso entscheidend ist vorbeugen, damit Krankheiten erst gar nicht entstehen. Das gilt für Körper und Geist. Entspannung ist dabei ein wichtiger Baustein. Man kann sie lernen, mit „Neurofeedback“. Das Start-up Brainboost aus München zeigte die Methode an einer Carrera-Bahn: Die Flitzer bewegen sich nur, wenn der Spieler ganz bei der Sache ist.

Das Rennen ist nur ein Spiel, doch mit der Gesundheit ist es ernst. Das Thema geht jeden an. Wirtschaft und Forschung tragen ihren Teil dazu bei und entwickeln schlaue Produkte. Doch es braucht auch Investitionen und Förderung neuer Technologien: Damit am Ende alle gut und bezahlbar versorgt sind.

So antworten die Experten des Zukunftsrats auf Fragen der Teilnehmer

Stichwort Eigenverantwortung: Welche Rolle spielt Prävention in Zukunft?

Prävention hilft, Erkrankungen zu vermeiden oder abzuschwächen. Wir müssen das Bewusstsein schaffen, dass jeder für seine eigene Gesundheit ein Stück mitverantwortlich ist. Wer vorbeugt, sollte belohnt werden, etwa durch Bonussysteme. Es braucht gute Anreize, um anzufangen – nicht Bevormundung.

Bei Ärzten und Pflegern droht Fachkräftemangel. Was ist zu tun?

Digitale Technologien helfen, den Berufsalltag effizient zu regeln, Arbeitsbedingungen zu verbessern und Personal zu entlasten. Das setzt Kräfte für die Patientenversorgung frei. Damit Ärzte sich auch auf dem Land niederlassen, sind Anreize sinnvoll. Darüber hinaus muss die Ausbildung lehren, mit moderner Technik umzugehen. Auch gezielte Zuwanderung ist ein Baustein.

Oft scheitert Neues an der Akzeptanz der Betroffenen. Wie kann diese erhöht werden?

Aufklärung und Transparenz sind hier besonders wichtig. Patienten müssen sehen, welche Vorteile sie von bestimmten Therapien haben. Genauso gilt es, Medizinern und Pflegekräften zu zeigen, wie groß der Nutzen ist, wenn sie sich stärker vernetzen und mit anderen Diszi­plinen kooperieren. Innovationen bei Medizintechnik sind etwa fruchtbar, wenn Mediziner mit Unternehmen, Start-ups und Forschungseinrichtungen eng zusammenarbeiten.

Die fünf Handlungsempfehlungen des Zukunftsrats der Bayerischen Wirtschaft

  • Grundsätze festlegen: Jeder muss versorgt werden. Dafür brauchen wir transparente Standards und fest definierte Grenzen der Grundversorgung mit möglichst wenig Bürokratieaufwand. 
  • Effizienz steigern, indem Prozesse im Gesundheitssystem verschlankt werden. Der Staat muss Anreize schaffen, damit Mediziner und Pfleger innovative Technologien einsetzen. 
  • Digitalisierung vorantreiben. Die innovativen Technologien müssen umfassend erforscht und in der Breite genutzt werden. Damit alle sie akzeptieren, müssen Daten gut gesichert sein. 
  • Rahmenbedingungen verbessern, etwa für Forscher und Start-ups sowie für schnelle Umsetzung von wissenschaftlichen ­Erkenntnissen. Aber auch, um Fachkräfte auszubilden und zu halten. 
  • Mehr Transparenz im System schaffen, etwa bei der Erstattung von Kassenleistungen. Aber auch, indem alle Akteure Informationen und Wissen untereinander tauschen.