Kiel/Köln. Überlastete Hotlines, abgesagte Impfstoff-Lieferungen, halb leere Impfzentren – die Kampagne gegen Corona kommt nur schleppend voran. Mehr als zwei Millionen Menschen haben mittlerweile eine erste Dosis erhalten. Ungeduld und Unzufriedenheit wachsen. Denn mit der Impfung gegen Covid-19 soll das Leben zurückkehren: Konzerte und Kinobesuche, Partys und Reisen, Auswärts-Essen-Gehen und Einkaufsbummel.

Es herrsche riesiger Erwartungsdruck, sagt Professor Helmut Fickenscher von der Uni Kiel, Präsident der Deutschen Vereinigung zur Bekämpfung von Viruskrankheiten. „Trotz aller Mängel – sehen wir es positiv: Wir haben bereits Impfstoffe! Das Impfen läuft! Und dass bei so einem Jahrhundertprojekt nicht alles perfekt funktioniert, finde ich normal.“ Zeit also für eine nüchterne Bestandsaufnahme. aktiv beantwortet die wichtigsten Fragen.

Mit welcher Strategie hat die Europäische Union die Impfstoffe bestellt?

Die EU wollte Streitigkeiten zwischen einzelnen Ländern verhindern und hat deshalb die Impfstoffe für alle 27 Mitgliedsstaaten zentral geordert. Um das Ausfallrisiko zu verringern, hat sie bei sechs Herstellern insgesamt mehr als zwei Milliarden Impfdosen in Auftrag gegeben. Die ersten Zulassungen holten sich zwei Impfstoffe völlig neuartigen Typs vom Mainzer Unternehmen Biontech und der US-Firma Moderna. Inzwischen hat auch das Präparat des britisch-schwedischen Konzerns Astra Zeneca eine Zulassung.

Impstoff für Deutschland - ist da genug geordert?

Sicher. Zwar wird im ersten Quartal der Impfstoff knapp bleiben. Da bekommt Deutschland erst Impfdosen für neun Millionen Menschen, im zweiten Quartal wird dann vier Mal so viel erwartet. Diese Prognose machte die Bundesregierung auf Basis von EU-Angaben. Allein die Unternehmen Biontech und Moderna werden in diesem Jahr Impfmittel für über 80 Millionen Menschen in Deutschland liefern. Weitere Liefermengen kommen später hinzu. Professor Fickenscher ist deshalb zuversichtlich: „Wenn alle Hersteller wie vereinbart liefern, haben wir eine gute Chance, den kommenden Winter deutlich entspannter zu verbringen als den jetzigen. Wir müssen allerdings bis zum Herbst weitgehend mit dem Impfen durch sein.“

Biontech und Co. – warum kommt die Produktion der Seren nicht in die Gänge?

Weil Impfstoffe noch nie so schnell entwickelt wurden wie in der Corona-Pandemie, erklärt Rolf Hömke vom Verband Forschender Arzneimittelhersteller. „Die beiden zuerst zugelassenen Präparate von Biontech und Moderna funktionieren nach einem ganz neuen Wirkprinzip, nämlich mit Genabschriften, kurz: mRNA. Für diese Stoffe mussten erst einmal industrielle Produktionsverfahren entwickelt werden. Und das binnen Jahresfrist!“ Die gewaltigen Mengen können nur nach und nach hergestellt werden.

Soll der Staat Pharmafirmen zwingen mitzuproduzieren, damit es jetzt am Anfang schneller geht?

Das ist nicht sinnvoll, sagt Jasmina Kirchhoff, Pharmaexpertin beim Institut der deutschen Wirtschaft: „Die Produktion von Impfstoffen ist sehr komplex, braucht Zeit und trainiertes Personal. Man kann in pharmazeutischen Anlagen etwa für Hustenmittel keine Impfstoffe fertigen und auch Impfstoffwerke können nicht ohne Weiteres auf diese neuen Impfstoffe umstellen.“ So brauche der französische Pharmakonzern Sanofi, der kürzlich eine Kooperation mit Biontech ankündigte, einige Wochen, bis er ab Sommer in Frankfurt Impfstoff für die Mainzer abfüllen kann. „Das Beispiel zeigt aber“, so Kirchhoff: „Die Pharma-Unternehmen bilden bereits miteinander Kooperationen, um die Produktion von Corona-Impfstoffen gemeinsam zu steigern. Die Marktwirtschaft funktioniert.“ Schon jetzt engagiert sich ein gutes Dutzend deutscher Pharma-Unternehmen bei der Impfstoffproduktion. Allein Biontech kooperiert mit fünf Unternehmen hierzulande und weiteren sieben europaweit.

Biontech und Pfizer – was tun Hersteller noch, um mehr Impfstoffe zu produzieren?

Die Mainzer und ihr US-Partnerunternehmen Pfizer etwa bauen auch ihre eigene Produktion aus. So hat Pfizer die Fertigung in seinem belgischen Werk optimiert, was im Januar zu Lieferverzögerungen führte. Und Biontech hat letztes Jahr vom Schweizer Pharmakonzern Novartis ein Werk in Marburg gekauft und mittlerweile umgebaut. Das nimmt demnächst den Betrieb auf und liefert dann 750 Millionen Impfdosen pro Jahr. Summa summarum will das Mainzer Unternehmen in diesem Jahr nun annähernd 2 Milliarden Dosen produzieren statt der bisher angestrebten 1,3 Milliarden. Das kündigte Biontech-Chef Ugur Sahin Anfang Januar bei einer Investorenkonferenz an.

Was ist mit dem kürzlich zugelassenen Impfstoff von Astra Zeneca?

Der Hersteller sorgte für einige Aufregung mit der Ankündigung, im ersten Quartal wegen Produktionsproblemen in Belgien deutlich weniger zu liefern als vorgesehen. Jetzt verspricht Firmenchef Pascal Soriot, man tue alles, um die Fertigung zu beschleunigen. Das Mittel hat aber eine Einschränkung: Die Impfkommission empfiehlt es nur für unter 65-Jährige.

Wann können wir mit weiteren Präparaten rechnen?

Zusätzliche Impfstoffe sind auf der Zielgeraden. Im Februar will der US-Konzern Johnson & Johnson eine Zulassung beantragen. Bei dessen Präparat genügt wahrscheinlich eine einzelne Dosis, um die Geimpften zu schützen. Bei den anderen Präparaten sind jeweils zwei Spritzen nötig. Der US-Konzern will eine Milliarde Dosen im Jahr ausliefern, hat aber auch Herstellungsprobleme. Weit fortgeschritten ist zudem ein Präparat vom US-Hersteller Novavax. Die EU-Kommission verhandelt mit ihm über Lieferungen. Die Tübinger Curevac, die mit Bayer kooperiert, hofft auf eine Zulassung im zweiten Quartal.

Impfzentren – warum wird am Anfang dort geimpft?

Ein wichtiger Grund ist: Die bundesweit etwa 450 Impfzentren erleichtern es, das Biontech-Präparat bei minus 70 Grad Celsius zu lagern. Hausarztpraxen und Apotheken können das meistens nicht garantieren. Zudem ermöglichen die zu Impfzentren umfunktionierten Messe-, Sport- oder Kongresshallen es, täglich Hunderte bis Tausende Menschen zu spritzen und die Mittel restlos aufzubrauchen. Einige Zehntausend Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte beraten und impfen dort die Bürger. Sobald genug Impfstoff da ist, werden auch die Hausärzte mitimpfen.

Pflegebedürftige und Ältere – in welcher Reihenfolge wird nun geimpft?

Absoluten Vorrang haben die etwa 800.000 Bewohner von Pflegeheimen und deren Personal. Mobile Teams sollen sie bis Mitte Februar impfen. An zweiter Stelle folgen die über 80-Jährigen, Beschäftigte auf Intensivstationen und von Rettungsdiensten. Als dritte Gruppe schließen sich über 70-Jährige an, Menschen mit Demenz oder geistiger Behinderung sowie Ärzte, Krankenpfleger und Polizisten. Als vierte aufgelistet sind über 60-Jährige, Menschen mit chronischen Erkrankungen von Herz oder Kreislauf, mit Übergewicht, Asthma oder Zuckerkrankheit sowie Erzieher und Lehrer. Geregelt ist das in einer Verordnung von Gesundheitsminister Jens Spahn. Alle anderen Erwachsenen erhalten ihre Spritze später beim Hausarzt.

Und wie kommt man an einen Termin im Impfzentrum?

Einfach hinfahren und anstellen, das geht nicht. Die Bundesländer schreiben ihre Bürger an. Dann kann man einen Termin entweder über eine Internetseite und/oder per Telefon vereinbaren. Mancherorts waren die Hotlines anfangs überlastet. Ein Manko ist zudem, dass die Servicenummer 116117 nicht bundesweit gilt. Spezielle Rufnummern gibt es beispielsweise in Niedersachsen (0800-9988665), im Rheinland (0800-11611701) und in Westfalen (0800-11611702) oder in Rheinland-Pfalz (0800-5758100).

Schützen die Impfstoffe auch gegen die mutierten Viren?

Die ansteckenderen Varianten aus Großbritannien und Südafrika breiten sich immer mehr aus. Laborstudien des renommierten US-Gesundheitsinstituts NIH sowie der Uni Texas belegen nun: Die Mittel von Biontech und Moderna schützen gegen die neuen Viren. Dank der Erbgut-Technologie ließen sich aber auch schnell passendere Impfstoffe entwickeln. Bei Biontech tüfteln Forscher bereits daran.

Hans Joachim Wolter
aktiv-Redakteur

Hans Joachim Wolter schreibt bei aktiv vor allem über Klimaschutz, Energiewende, Umwelt, Produktinnovationen sowie die Pharma- und Chemie-Industrie. Der studierte Apotheker und Journalist begann bei der Tageszeitung „Rheinpfalz“ in Ludwigshafen und wechselte dann zu einem Chemie-Fachmagazin in Frankfurt. Wenn er nicht im Internet nach Fakten gräbt, entspannt er bei Jazz-Musik, Fußballübertragungen oder in Kunstausstellungen.

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