Hildesheim. Mit vollen Einkaufstüten war Bilge Ciblak schon lange nicht mehr in der Stadt. „Ich bin sehr viel online unterwegs“, gesteht die 22-Jährige. Eigentlich ein Albtraum für lokale Unternehmer: Junge Leute, die mit dem Smartphone shoppen und ihr Geld in die Schatzkammern der mächtigen Versandhändler schicken. Über Menschen wie Ciblak sagt Matthias Mehler: „Ein starker Standort braucht das.“ Der Vorsitzende der Unternehmer Hildesheim meint, dass Ciblak „einen der wichtigsten neuen Berufe“ erlernt. Ciblak startet nach den Sommerferien in ihr drittes und letztes Lehrjahr als E-Commerce-Kauffrau.

Mehler sitzt im Hi-Studio im Roemer- und Pelizaeus-Museum – mit Vertretern der Wirtschaftsförderung Hi-Reg und dem Welcome Center, der Industrie- und Handelskammer (IHK) und der Friedrich-List-Schule (FLS). „Keine Angst vor E-Commerce“ prangt im Hintergrund auf einem riesigen Bildschirm.

Corona-Lockdown pushte Online-Shops

Unternehmen, Institutionen und berufsbildende Schule haben die Voraussetzung geschaffen, um erstmals auch die schulische Ausbildung in Hildesheim zum Kaufmann oder zur Kauffrau im E-Commerce zu ermöglichen. Künftig können hier vor Ort junge Leute lernen, wie sie ihr Unternehmen im Internet präsentieren. „Bisher gab es Bedenken bei den Unternehmen, ob sie geeignet dafür sind“, erklärt Mehler. Es gab bereits den Versuch, die Ausbildung an der FLS anzubieten. Damals gab es zu wenige Auszubildende, die Klasse ging nach Hannover. Zwei junge Leute brachen deswegen ab. Ciblak blieb dabei. „Mein Chef hat damals zu mir gesagt: Du gehörst hierher. Da hatte er recht.“

Spätestens seit dem Corona-Lockdown wurde den Kaufleuten klar, was die meisten schon vorher wussten: An einem Online-Shop führt kein Weg vorbei. „Wir haben jetzt Unternehmer mit anderen Voraussetzungen“, meint Hans-Joachim Rambow, Leiter der IHK in Hildesheim. Die Sorgen seien zwar immer noch da, aber die Aufbruchsstimmung überwiege. „Es gibt auch Begleitung für die Unternehmen“, verspricht Rambow.

Software-Unternehmer gesteht: „Ich bin da auch Azubi“

Die braucht an manchen Stellen selbst Frank Wuttke. „Ich selber bin da auch Azubi“, gesteht der Software-Unternehmer und Gründer vom Hi-X-Digihub. Denn was selbst ein gestandener Unternehmer noch lernen muss, kennt eine Auszubildende wie Ciblak aus dem Effeff. „Ich habe immer schon gerne Bilder gemacht, mit Photoshop gearbeitet und war online unterwegs“, sagt sie.

Während sie das erzählt, führt sie an Baubedarf vorbei. Ciblak macht ihre Ausbildung bei der EFG Schwemann KG. „Ich habe vorher noch nie Werkzeug bestellt“, gesteht sie und lacht. Die Firma ist ein Elektro-Fach-Großhandel. „Wir haben Beteiligte aus dem Einzelhandel, dem Dienstleistungssektor, dem Handwerk und der Industrie“, bestätigt Unternehmer-Vorsitzender Mehler.

„E-Commerce umfasst alles, was wir online erledigen“, erklärt Alberto Carballo. Der gelernte Speditionskaufmann und studierte Betriebswirtschaftler wird die erste E-Commerce-Klasse in Hildesheim unterrichten. Mit Interesse und über Fortbildungen hat er sich in das Thema eingearbeitet, konnte schließlich sogar an einem Lehrbuch mitschreiben. Artikelbeschreibungen und Fernabsatzrecht, Performance-Messungen und Zahlungsmodalitäten – all das wird er den jungen Leuten beibringen.

Die Ausbildung ist für Realschüler, Abiturienten, Studienabbrecher reizvoll

„Wie präsentiere ich mein Unternehmen zeitgemäß im Netz?“ Diese Frage steht über allem. Das Fachliche lernt man im Unternehmen. Für Ciblak, die sich als „handwerklich nicht begabt“, beschreibt, bedeutete das: Warengruppen kennen, Vokabular lernen. Dazu kommt der klassische wirtschaftliche Teil der Ausbildung zur Kauffrau.

Affinität zu Medien, Spaß an Kommunikation und Teamfähigkeit seien gute Grundvoraussetzungen, meint Carballo. „Man sollte sich begeistern, bei Alltäglichem hinter die Kulissen gucken zu können“, rät er.

Kirsten Lehmann, Leiterin der Kaufmännischen Berufsschule an der FLS, rechnet mit vielfältigen Interessenten. „Aus anderen Schulen wissen wir, dass es für Realschüler, Abiturienten, Studienabbrecher reizvoll ist.“ Die Nachfrage nach der Ausbildung ist da. Die Berufsbildende Schule in Hannover hat nach vier Jahren das Potenzial, dreizügig zu werden. Lehmann hofft, dahin auch irgendwann in Hildesheim zu kommen. „Junge Leute haben keine Schwierigkeiten, sich reinzufuchsen“, ist Auszubildende Ciblak überzeugt. Es sei „eine Ausbildung, die jeder meistern kann“.

Rasantes Wachstum

E-Commerce in Deutschland

  • 72,8 Milliarden Euro Umsatz im Jahr 2020
  • 23 Prozent Zuwachs gegenüber 2019
  • 48 Prozent der Kunden zahlen mit Paypal