Potsdam. Digitalisierung, neue Technologien, Zuwanderung: Unsere vertraute Welt wandelt sich. Das führt zu Verunsicherung. Doch wir fürchten uns vor den falschen Dingen, sagt Professor Ortwin Renn, ein international anerkannter Risikoforscher. Er ist wissenschaftlicher Direktor am Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung in Potsdam.

Liegen die Menschen richtig, die glauben, das Leben werde immer riskanter?

Nein! Was Gesundheit, Sicherheit und Lebensbedingungen betrifft, geht es uns Deutschen in Wirklichkeit Jahr für Jahr besser. Alle Generationen vor uns hatten ein beschwerlicheres und riskanteres Leben. Übrigens war auch die Lebenserwartung noch nie so hoch wie heute. Ein jetzt geborenes Mädchen hat hierzulande eine Lebenserwartung von im Schnitt 82, ein Junge von 79 Jahren. In Umfragen aber glaubt die Mehrheit tatsächlich, das Leben werde Jahr für Jahr gefährlicher.

Irgendwo müssen die Ängste ja herkommen …

Ängste sind ein Stück weit auch eine Wohlstandserscheinung. Je besser es uns geht, desto weniger müssen wir uns mit Risiken herumschlagen, die uns früher ständig bedroht haben, wie Armut oder Hunger. In der Folge konzentrieren wir uns voll auf die Gefahren, die noch übrig bleiben.

Was sind das für Gefahren, die wir überschätzen?

Viele glauben etwa, dass uns Gewaltverbrechen mehr bedrohen als früher. Sie sind im Einzelfall natürlich schlimm, aber statistisch weniger wahrscheinlich, als viele vermuten. Auch Nahrungsmittelskandale werden überschätzt, außerdem ganz allgemein viele Risiken durch chemische Produkte, technisches Versagen oder Gewalt.

So groß ist das Risiko,

pro Jahr und Kopf in Deutschland …
… tödlich vom Blitz getroffen zu werden1 zu 20.650.000
… durch einen tätlichen Angriff zu sterben1 zu 189.792
… einen Wildunfall zu erleben1 zu 313
… von einem Wohnungseinbruch betroffen zu sein1 zu 271
… bei einem Verkehrsunfall verletzt zu werden1 zu 208
… sich im Haushalt zu verletzen1 zu 26

Viele haben Angst vor Terror.

Anschläge sind natürlich sehr schlimm, zu Recht richtet sich darauf ein großes Augenmerk. Das rein statistische Risiko, selbst Opfer zu werden, ist allerdings verschwindend gering, im Schnitt über die letzten fünf Jahre waren rund fünf Personen pro Jahr in ganz Deutschland betroffen. Also ein Risiko von 5 zu 80.000.000. Es wäre also eine unverhältnismäßige Reaktion, wenn man etwa glaubt, der Staat habe die Kontrolle verloren.

Wie entsteht so ein verzerrtes Bild von der Wirklichkeit?

Sobald irgendwo etwas Schlimmes passiert, wird überall sofort und hautnah darüber berichtet, das ist im Sinne einer transparenten Gesellschaft ja auch in Ordnung. Und in der modernen Internet-Welt finden wir jederzeit eine Umgebung, die das, was wir glauben, zusätzlich bestätigt. So kann, vor allem bei Nutzern sozialer Netzwerke, der Eindruck entstehen, dass wir von Katastrophen und Verbrechen nur so umzingelt sind.

Was bedroht uns denn wirklich?

Unser eigenes Verhalten ist ein großer Risikofaktor. Viele ernähren sich ungesund, bewegen sich zu wenig. Für bis zu zwei Drittel aller frühzeitigen Todesfälle sind Rauchen, übermäßiges Trinken, mangelnde Bewegung und falsche Ernährung verantwortlich.

Aber die großen Veränderungen in der Welt bergen doch auch Risiken.

Ja, denken Sie nur an den Klimawandel. Ich nenne solche Risiken „systemische Risiken“: Das sind Gefahren, die sich global langsam und zunächst unauffällig entwickeln. Auch die Übernutzung natürlicher Ressourcen zählt dazu: Weil vielerorts die Bevölkerungsdichte sehr hoch ist, kann es zu Versorgungsengpässen und sogar Katastrophen kommen. Dazu kommen noch Kriege, vor denen Menschen zu uns fliehen.

Warum haben viele sogar Angst vor dem technischen Fortschritt?

Der Fortschritt führt dazu, dass sich soziale Strukturen ändern. Die Digitalisierung verändert die Arbeitswelt. Manche angestammten Tätigkeiten wird es nicht mehr geben, andererseits entstehen neue. Da will man nicht zu den Verlierern zählen.

Passieren eigentlich wirklich die meisten Unfälle im Haushalt?

Heim- und Freizeitunfälle insgesamt machen den Hauptanteil der tödlichen Unfälle in Deutschland aus. Das liegt auch daran, dass wir inzwischen die meiste Zeit unseres Lebens zu Hause und im Rahmen von Freizeitaktivitäten verbringen.