München. In Bayern steckt viel Potenzial. Davon ist der Zukunftsrat der Bayerischen Wirtschaft überzeugt – angesichts der Studie „TechCheck 2019. Erfolgsfaktor Mensch“. Die von der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw) beim Forschungsinstitut Prognos in Auftrag gegebene Studie untersucht, wie sich in den letzten fünf Jahren die zehn wichtigsten Zukunftsfelder für Bayern entwickelt haben.
Dennoch fällt für Alfred Gaffal, vbw-Ehrenpräsident und Vorsitzender des Zukunftsrats, das Ergebnis gemischt aus: „Die Ausgangslage ist nach wie vor gut. Aber wir lassen immer noch zu viele Chancen ungenutzt.“
Es geht um Innovationen – etwa für Mobilität und Medizin
Vor fünf Jahren hatte der Zukunftsrat zehn Zukunftsfelder definiert. Sie reichen von der Digitalisierung über die Produktionstechnologien bis hin zu den Bereichen Mobilität und Energie. Sie alle zeichnet aus, dass sie ein erhebliches weltweites Wachstumspotenzial haben. Und nur wer da mitmischt, wird zukünftig zur Weltspitze gehören, sich im Wettbewerb behaupten und letztlich auch den Wohlstand für die Bevölkerung sichern.
Laut Studie haben sich nur bei der Hälfte der Zukunftsfelder die Erwartungen an die technologische und wirtschaftliche Entwicklung erfüllt, darunter sind die wichtigen Bereiche Informations- und Kommunikationstechnologien sowie Mobilität.
Doch der Freistaat lässt an vielen Stellen Chancen liegen. Die Experten identifizierten den Menschen selbst als alles entscheidenden Faktor, damit Innovationen erfolgreich sind und angenommen werden.
Der Rat empfiehlt daher, bei allen technologischen Entwicklungen den Menschen und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen. Gaffal: „Sei es durch Forschung, die den Nutzen für die Menschen zum Ziel hat. Sei es, dass wir die Menschen in den Unternehmen beim – auch kulturellen – Wandel hin zu neuen Technologien und Anwendungen bestmöglich begleiten und unterstützen. Oder sei es, dass wir in der Gesellschaft Begeisterung für neue Technologien schaffen.“
TechCheck: Das hat Bayern schon angepackt
Fünf von zehn Technologiefeldern schneiden gut ab. In den übrigen bleiben Chancen ungenutzt. Hier der gesamte Überblick und die Einschätzung des Zukunftsrats.
1. Gesundheitswesen und Medizintechnologien
- Darum geht’s: Das Feld reicht von medizinischen Apparaten und Maschinen über zahntechnische Laboratorien und Therapiegeräte bis hin zu bildgebenden und minimalinvasiven Verfahren. Dazu kommen Robotik, Telemedizin und digitale Anwendungen wie eHealth.
- Das sagt der Rat: Einige Technologien sind bereits im Alltag etabliert, andere werden von zu viel Regulierung ausgebremst. Der Nutzen neuer Methoden wird nicht immer gesehen, zudem ist teilweise offen, wer die Kosten trägt. Urteil: Chancen bleiben ungenutzt
- Da wird’s konkret: Das Münchner Unternehmen Cat Productions führt mit virtueller Realität und medizinischen Animationen vor, wie gut uns Bewegung tut. Im Auftrag des bayerischen Kompetenzzentrums für Ernährung (KErn) hat es zum Beispiel eine Reise durch den menschlichen Körper programmiert. Beim Blick durch die VR-Brille „wandert“ man gefühlt ins Innere eines 3-D-Modells und betrachtet dort Muskeln, Herz oder Lunge. Die Animation zeigt, was sich dort positiv verändert, wenn sich der Mensch bewegt: Seine Muskeln werden kräftiger, das Lungenvolumen vergrößert sich, mehr rote Blutkörperchen strömen durch die Adern und transportieren viel Sauerstoff. Die medizinische Animation dient auch zur Schulung von Ärzten und Pflegepersonal in Kliniken.
2. Intelligente Verkehrssysteme und zukünftige Mobilität
- Darum geht’s: Technologien, Konzepte und Geschäftsmodelle, die den Verkehrssektor im Individual- und öffentlichen Nahverkehr künftig prägen werden.
- Das sagt der Rat: Die Automatisierung von Verkehrssystemen schreitet voran. Für viele Anwendungen fehlen jedoch noch die digitale Infrastruktur und der rechtliche Rahmen. Aufgrund der breit gefächerten Fahrzeugbranche ist Bayerns Ausgangslage aber gut. Urteil: Erwartungen erfüllt
- Da wird’s konkret: Technik von LXElectronics hilft, Fußgängerströme zu lenken. Etwa nach einem Platzregen auf der Wiesn. Auf einen Schlag strömen dann Zehntausende Besucher des Münchner Oktoberfests in die S- und U-Bahnen. Ein automatisiertes System erfasst die Zu- und Abflüsse an Passagieren in den Bahnhöfen. Mit künstlicher Intelligenz erkennt es typische Muster und schlägt bei Abweichungen Alarm. Mikrofone am Wegesrand messen den Trittschall, so zählt das System die Passanten und funkt die Information an die Leitzentrale. Die kann reagieren.
3. Ernährung und Lebensmitteltechnologien
- Darum geht’s: Einerseits um industrielles Herstellen, Verarbeiten und Haltbarmachen von Lebensmitteln. Andererseits um gesunde Ernährung, etwa zur Prävention von Krankheiten.
- Das sagt der Rat: In Bayern wird dazu viel geforscht, aber oft nicht anwendungsorientiert in Unternehmen. Zahlreiche Technologien sind jedoch bereits marktreif. Urteil: Erwartungen erfüllt
- Da wird’s konkret: Im „Plantcube“ von Agrilution herrscht immer Frühling. Der Pflanzwürfel schafft ideale Wachstumsbedingungen für die Zucht von Kräutern und Salat in der eigenen Wohnung. Sensoren kontrollieren beständig die Temperatur, die automatische Bewässerung versorgt die Gewächse über einen eingebauten Tank mit Wasser sowie Nährstoffen. Die Pflanzen wachsen auf vorproduzierten Saatmatten in acht Mini-Feldern übereinander. Eine App sagt, wann es Zeit für die Ernte ist.
4. Industrielle Produktionstechnologien
- Darum geht’s: Um Lösungen, welche die Produktion flexibler, effizienter, kostengünstiger und qualitativ hochwertiger machen. Sie sind ein entscheidender Wettbewerbsfaktor für die Industrie.
- Das sagt der Rat: Mit additiver Fertigung und Industrie 4.0 stehen sprunghafte Entwicklungen bevor. Bislang sind neue Anwendungen aber nicht ausgereift. Insbesondere der vielversprechende 3-D-Druck ist noch ein Nischenmarkt. Urteil: Chancen bleiben ungenutzt
- Da wird’s konkret: Die sewts GmbH zeigt, was mit Automatisierung alles geht. Beispiel Textil-Industrie: Am T-Shirt wurde gerade das Halsbündchen angenäht, jetzt sind die Ärmel an der Reihe. Zwei Greif-Roboter packen den zerknäulten Stoff an der Kante, wandern langsam nach außen und ziehen ihn glatt. Faltenfrei wird das halb fertige Kleidungsstück in die nächste Maschine eingelegt. Der Einsatz der Robotik macht die Fertigung günstiger. So könnten etwa Textilien wieder in Deutschland produziert werden. Großwäschereien setzen die Legeroboter bereits ein. Sie helfen dort beim Wäschefalten.
5. Biotechnologien
- Darum geht’s: Kleine Organismen wie Bakterien oder Viren, aber auch Zellstrukturen und Enzyme werden eingesetzt, um etwa neue Medikamente zu entwickeln, schädlingsresistente Nutzpflanzen zu züchten oder Haushaltsmittel herzustellen.
- Das sagt der Rat: Die Technologie hat großes Potenzial. Aber weite Teile der deutschen Bevölkerung stehen ihr sehr kritisch gegenüber. Das gilt etwa für die Produktion gentechnisch veränderter Nahrungsmittel. Urteil: Chancen bleiben ungenutzt
- Da wird’s konkret: Mit Biotech verbindet man neue Verfahren wie die in den USA entwickelte Gen-Schere „Crispr-Cas9“. Das ist eine biochemische Methode, die DNA schneidet und verändert, um etwa genetisch bedingte Krankheiten heilen zu können. Aber auch in Verbindung mit Nanomaterialien ermöglicht Biotechnologie innovative Anwendungen. Zum Beispiel in der Medizin: Nanopartikel – wie vom Unternehmen tilibit nanosystems gebaut – transportieren Biopharmazeutika an die gewünschte Stelle im Körper. Dort setzen sie gezielt Wirkstoffe frei, etwa um Tumore zu bekämpfen. So wirken die Medikamente besser und haben zudem weniger Nebenwirkungen.
6. Nanotechnologien
- Darum geht’s: Um winzigste Teilchen – ein Nanometer ist der milliardste Teil eines Meters. Dadurch, dass die Teilchen so klein sind, besitzen sie besondere physikalisch-chemische Eigenschaften.
- Das sagt der Rat: Vor allem in der Medizin- und Energietechnik haben Nanostrukturen großes Potenzial. Allerdings hemmen hochsensible und teure Verfahren die Verbreitung. Und es fehlt an Akzeptanz, etwa für den Einsatz in der Medizin. Urteil: Chancen bleiben ungenutzt
- Da wird’s konkret: Praktische Nano-Anwendungen entwickelt tilibit nanosystems aus Garching, etwa für die Halbleiter-Industrie. Die Firma beschäftigt sich mit der Herstellung winzigster Maschinen, die eine Million mal kleiner als alles sind, was wir im Alltag so in der Hand halten. Die Winzlinge bestehen aus einem völlig neuen Baumaterial: DNA-Molekülen, bekannt als Speicher von Erbgutinformationen. Um aus den Molekülen „Maschinen“ zu formen, nutzt man ein Verfahren, bei dem sich die Bausteine selbstständig nach einem vorgegebenen Muster arrangieren. Die Methode nennt sich DNA-Origami und ist benannt nach der japanischen Papierfalttechnik.
7. Neue Werkstoffe und Materialien
- Darum geht’s: Um Stoffe, aus denen künftige physische Produkte bestehen. Vor allem hybride Materialien und Verbundwerkstoffe gewinnen an Bedeutung – oder auch künstliche Nachbauten biologischer Werkstoffe („biomimetische Werkstoffe“).
- Das sagt der Rat: Bayern ist einer der führenden Standorte in diesem Bereich. Innovationen sind insbesondere im Verarbeitenden Gewerbe weit verbreitet. Urteil: Erwartungen erfüllt
- Da wird’s konkret: Das Nürnberger Unternehmen Staedtler präsentiert ein neues Schreibgerät. Es sieht wie ein Bleistift aus und fühlt sich auch so an – ist aber ein Smart-Pen, mit dem man auf ein Tablet zeichnen kann. Der neueste Clou: Die Firma stattet ihn sogar mit einem Radiergummi aus, mit dem sich das Gezeichnete auf dem Tablet leicht wieder löschen lässt. Das Material „Wopex“, aus dem der Holzstift besteht, ist ebenfalls eine Erfindung des Nürnberger Traditionsunternehmens. Der Begriff steht für Wood Pencil Extrusion, ein Materialmix aus Naturfaser-Verbundwerkstoff, der ökologisch besonders effizient ist. Auch herkömmliche Bleistifte können damit gefertigt werden – in einem Bruchteil der Zeit, die man üblicherweise dazu benötigt.
8. Energiesysteme und -technologien
- Darum geht’s: Radikaler Umbau des Energiesystems mithilfe effizienter Technik, um Klimaziele zu erreichen und gleichzeitig den wachsenden Energiebedarf zu decken.
- Das sagt der Rat: Erneuerbare Energien sowie Effizienztechnologien entwickeln sich positiv am Markt. Allerdings fehlt ein schlüssiges Energie-Gesamtkonzept für Deutschland, das sich mit den Klimazielen deckt. Urteil: Chancen bleiben ungenutzt
- Da wird’s konkret: Aus der Kraft der Wellen erzeugt das Unternehmen Sinn Power aus Gauting erneuerbare Energie. Die schwimmenden Kraftwerke könnten Menschen an den Küsten künftig günstig mit Strom versorgen. Das Prinzip ist einfach: Das Auf und Ab der Wellen hebt die Schwimmkörper der einzelnen Module des Wellenkraftwerks in die Höhe. Sie bewegen dabei eine Hubstange, die durch einen Generator läuft. Dabei wird Strom erzeugt. Das Wellenkraftwerk besteht aus mehreren solcher verbundener Module und treibt wie ein Schiff vor Anker auf der Meeresoberfläche. Das innovative Verfahren zur Energiegewinnung wird derzeit im Mittelmeer vor der griechischen Ferieninsel Kreta sowie in der Karibik erprobt.
9. Luft- und Raumfahrttechnologien
- Darum geht’s: Herstellung und Betrieb von Flugsystemen und Satelliten sowie deren Komponenten und Startsysteme.
- Das sagt der Rat: Die Luft- und Raumfahrttechnologie ist eine der wachstumsstärksten Branchen Deutschlands, auch wenn rechtliche Rahmenbedingungen teilweise die Zulassung von Neuerungen hemmen. Im Trend liegen unbemannte Flugsysteme für Aufklärung, Vermessung, Luftbildfotografie, Inspektionen und Dokumentation. Urteil: Erwartungen erfüllt
- Da wird’s konkret: Das Unternehmen „3D reality maps“ nutzt 3-D-Technik, um Landschaften und Städte mithilfe von Satelliten-, Luft-, Drohnen- und Laseraufnahmen zu digitalisieren. So lassen sich per Blick von oben unbegrenzt große Datensätze auf Laptops, Smartphones, Tablets oder VR-Brillen darstellen und mit nützlichen Informationen verknüpfen. In reale Aufnahmen vom Gebirge kann man dann etwa Wanderwege „einzeichnen“. Das Verfahren ist hochgenau und dient auch dazu, Veränderungen zu dokumentieren, etwa den Rückzug von Gletschern, oder Naturgefahren wie Bergstürze besser einzuschätzen. Anhand der präzisen Luftbilder verstehen Wissenschaftler besser, was in der Natur abläuft und wie schnell dies geschieht. Auch historische Gebäude lassen sich von außen und innen auf diese Weise vermessen. Zum Beispiel, um sie nach einem Brand möglichst originalgetreu wieder aufbauen zu können.
10. Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) und Digitalisierung
- Darum geht’s: Hardware- und Software-Komponenten, um elektronisch Daten zu erfassen, zu verarbeiten und zu nutzen.
- Das sagt der Rat: Informations- und Kommunikationstechnologien sowie die Digitalisierung besitzen riesiges Potenzial und könnten mit genügend Fachkräften und besserer digitaler Infrastruktur noch besser laufen. Vor allem künstliche Intelligenz wird wichtiger, ebenso Industrie-Robotik. Urteil: Erwartungen erfüllt
- Da wird’s konkret: Feinfühlig, vernetzt und anpassungsfähig: Der Roboterarm der Firma Franka Emika arbeitet sehr gut mit Menschen zusammen und ist besonders leicht zu bedienen. Eine Vielzahl an Sensoren verleiht ihm einen hochauflösenden Tastsinn. So erledigt er schwierige Aufgaben schnell und präzise. Dazu muss man ihn nicht programmieren. Stattdessen nimmt man den Roboter an der Hand, zeigt ihm die geforderten Bewegungen und speichert sie mit einem Klick. Der Roboter macht alles selbstständig nach, in beliebiger Geschwindigkeit. Er heißt „Panda“, weil er schwarz-weiß ist, „und weil das freundlich klingt“.
Dieses Fazit zieht der Zukunftsrat
- Deutschland und insbesondere Bayern haben eine gute Ausgangslage, um das Potenzial neuer Technologien zu nutzen.
- Positiv ist vor allem das verhältnismäßig gute Abschneiden in den wichtigen Bereichen Mobilität sowie Informations- und Kommunikationstechnologien beziehungsweise Digitalisierung. Vor allem Letztere ist Treiber für neue Ansätze in fast allen Zukunftsfeldern.
- Technischer Fortschritt scheitert aber oft an mangelnder Begeisterung für neue Technologien in der Gesellschaft und an zu viel Regulierung vonseiten der Politik. Es wird insgesamt zu wenig ausprobiert und geforscht.
- Ohne den Fokus auf neue Technologien läuft Deutschland Gefahr, im weltweiten Wettbewerb zurückzufallen.
- Schwächen haben wir etwa noch bei datengetriebenen Geschäftsmodellen sowie internetbasierten Anwendungen.
- Vor allem für digitale Technologien fehlen noch Fachkräfte und die nötige Infrastruktur.