Flensburg. Vergnügt schnattern die jungen Leute durcheinander. Nach einer Kanufahrt feiern die 28 frischgebackenen Erzieherinnen und Erzieher der Flensburger Hanna-Arendt-Berufsschule ihren Abschluss. Und Nils-Odin Wirsching redet, scherzt, lacht mit. Dabei ist der junge Mann gehörlos. Doch durch zwei elektronische Hörprothesen, sogenannte Cochlea-Implantate, kann der 22-Jährige in der Welt der Worte, Töne und Geräusche mithalten.

Damit kann man in aller Regel auch hören, wenn der Hör-Sinn komplett versagt, erklärt Professor Roland Laszig, Direktor der Hals-Nasen-Ohren-Klinik der Uni Freiburg: „Ein Hörgerät verstärkt den Schall nur über Lautsprecher ins Ohr hinein – das Implantat dagegen wandelt die Töne in elektrische Signale um und stimuliert damit direkt den Hörnerv in der Gehörschnecke des Ohrs, der Cochlea. Es umgeht also das Ohr.“

Laszig ist ein Pionier der Technik. Er half schon vor Jahrzehnten mit, als das „künstliche Ohr“ hierzulande erstmals einem ertaubten Patienten eingesetzt wurde. Heute haben bundesweit 35.000 Menschen so ein Implantat, und jedes Jahr kommen 3.500 Träger hinzu. Die Operation ist an großen Kliniken Routine. Und die Soziale Marktwirtschaft zeigt, was sie draufhat: Die bis zu 25.000 Euro für das Implantat und die Kosten von Operation und Nachbehandlung zahlen die Krankenkassen.

Hersteller wie Med-El aus Österreich (1.500 Mitarbeiter) sowie Cochlear aus Australien (2.700 Beschäftigte) entwickeln die Technik ständig weiter. Musste der Gehörlose in den 80er-Jahren noch einen Rechner in der Größe eines Kofferradios mit sich schleppen, sind die externen Teile durch immer kleinere Rechenchips massiv geschrumpft.

Und in den letzten Jahren zu Meisterwerken geworden: Sie filtern Hintergrundgeräusche wie Straßenlärm oder Musik raus, ermöglichen dadurch gutes Hören und sogar den Anschluss von Smartphone oder MP3-Player.

Das System besteht aus drei Komponenten: Ein Minigerät am Ohr nimmt mit zwei Mikrofonen Schallwellen auf und wandelt die Töne mit einem Sprachprozessor in digitale Signale um. Diese Signale gehen per Kabel an eine Sendespule – die sie an die im Schädelknochen implantierte Empfängerspule übermittelt. Ein dort integrierter Mini-Computer wandelt die digitalen Signale in elektrische Impulse um und stimuliert über Elektroden den Hörnerv und damit das Gehirn.

Zwei von drei gehörlosen Kindern mit Implantat sprechen fast akzentfrei

Mit nur 22 Elektroden schafft die Medizintechnik, wofür der Körper 30.000 Hörnerven einsetzt. Zwar ist die Tonqualität des Implantats nicht so gut wie die eines gesunden Gehörs. Doch die Sprach-Wahrnehmung ist so gut, dass die Betroffenen selbst fast akzentfrei artikulieren: Vielen Trägern hört man es nicht an, dass sie eigentlich gehörlos sind.

Auch Nils-Odin Wirsching nicht. Als Kind erhielt er ein Implantat. Sechs Wochen nach der OP schalteten Techniker der Klinik das Gerät ein und justierten es in vielen Tests. Was folgte, war ein großer Moment: „Ich habe erstmals Vögel zwitschern gehört“, erinnert sich der junge Mann und strahlt übers ganze Gesicht. „Ich bin durch die Wohnung gelaufen, habe an alle Dinge geklopft, weil ich sie hören wollte.“

Neben spät Ertaubten erhalten immer häufiger gehörlose Kinder mit ein oder zwei Jahren ein Implantat, wenn die Eltern es wünschen. „Mit jedem weiteren Jahr sinkt die Chance, sprechen zu lernen“, erklärt Professor Laszig, „mit sieben ist sie vorbei.“ Zwei Drittel der Kinder mit Implantat sprechen schließlich „fast akzentfrei“. Voraussetzung: die Motivation, mit dem Gerät zu leben.

Dann ist viel möglich, Fremdsprachen lernen und studieren. Oder Ausbildung und Führerschein machen, Gitarre lernen und hörende Freunde haben wie Nils-Odin Wirsching: „Dank Technik kann ich alles, was ich möchte.“

Fakten

Foto: Med-El
Foto: Med-El

Rasante Entwicklung der Hörprothese

  • 1977 wird sie erstmals eingesetzt. Der externe Prozessor hat Kofferradio-Größe (Foto).
  • 1985 erhalten erstmals Kinder ein Implantat.
  • Ende der 90er-Jahre: Der Sprachprozessor passt hinters Ohr.
  • In jüngster Zeit wird die Tonqualität optimiert.