Mainz. Autonome Transportsysteme in der Produktion. Roboter, die schwere oder gefährliche Arbeiten übernehmen wie das Schmieden von Gelenkwellen. Computer, die über einen Monitor dem Menschen Montagetipps geben: Auf bestimmte Bereiche bezogene innovative Digitalisierungslösungen wie das enge Zusammenspiel von Mensch und Roboter oder die Bereitstellung von Fertigungsinformationen per Bildschirm, Tablet oder Datenbrille sind in den Unternehmen keine Seltenheit mehr.
Industrie 4.0 ist in den Betrieben angekommen. Auch wenn sie als Vision einer betriebsumfassenden und übergreifend vernetzten Produktionswelt mit Werkstücken, die sich darin autonom steuern und bewegen, in der betrieblichen Praxis noch wenig umgesetzt wird.
Doch was bedeutet dies für die Menschen, die dort arbeiten? Und welche Konsequenzen hat es für die Weiterentwicklung der Arbeit und der Organisation in den Betrieben? Diesen Fragen widmete sich das zehnte Arbeitswissenschaftliche Forum, zu dem die Metall- und Elektro-Arbeitgeberverbände von Hessen, der Pfalz, Rheinland-Rheinhessen und dem Saarland ihre Mitgliedsunternehmen eingeladen hatten.
Anwender aus verschiedenen Unternehmen berichteten den knapp 250 Teilnehmern, die in die Opel Arena des 1. FSV Mainz 05 gekommen waren, von ihren Erfahrungen. Was heute allein schon im Werk Erbach von Bosch Rexroth, dem Spezialisten für Antriebs- und Steuerungssysteme, möglich ist, demonstrierten zwei Mitarbeiter durch den Umbau einer alten Nähmaschine aus Großmutters Zeiten in ein hightechüberwachtes Gerät mit Internetanschluss.
Sensoren und ein passendes Computerprogramm dokumentieren nun – wie die Zuschauer über eine Leinwand verfolgen konnten – Betriebsdauer, Drehgeschwindigkeit des Antriebriemens, die Anzahl der Nadelstiche und die Vibration der Maschine.
Sogar ein „Schlupf-Warner“ wurde eingebaut, falls der Riemen Probleme bereitet. „Ich war selbst beeindruckt davon, wie gut man allein über den Vibrationswarner in so eine Maschine hineinhören kann“, erläuterte der Entwicklungsingenieur Tim Setzer. Wie sein Kollege Stefan Knapp erklärte, helfen solche Programme von Bosch Rexroth unter anderem dabei, Produktionsmaschinen besser zu warten und Ausfallzeiten zu verhindern oder zu reduzieren.
Offenheit und Transparenz sind unter den neuen Bedingungen unverzichtbar
„Der Mensch spielt bei uns eine Schlüsselrolle, denn er kontrolliert das Gesamtsystem und trifft Entscheidungen, unterstützt durch digitale Systeme“, betonte Werkleiter Claus Lau. Zudem bringe Arbeiten 4.0 auch Entlastung, weil sich Arbeitsplätze ergonomisch auf den Mitarbeiter einstellen und Routinetätigkeiten entfallen.
Betriebsratsvorsitzender Rainer Raßloff wies dabei auf die Bedeutung von Offenheit und Transparenz in den Betrieben hin: „Das sind in der neuen Arbeitswelt unverzichtbare Werte, die gelebt und gepflegt werden müssen. Denn die Menschen müssen aktiver Bestandteil im Unternehmen bleiben.“
Neueste Technologien und Technik gepaart mit einer engagierten und motivierten Mannschaft rechtfertigen auch nach Aussage von Franz Eckl hohe Investitionen in den Standort Deutschland. Der Geschäftsführer von Thyssenkrupp Gerlach in Homburg (Saar) betreibt die effizientesten Kurbelwellenlinien der Welt. Im Geschäftsjahr 2007/2008 produzierten an einer nicht automatisierten Linie 74 Mitarbeiter rund eine Million Kurbelwellen im Jahr.
Alle Strukturen und Prozesse müssen überprüft und angepasst werden
Dank Automatisierung stellen heute 64 Mitarbeiter mehr als doppelt so viele Kurbelwellen her. Zudem wurde der Energieverbrauch um 30 Prozent gesenkt. „Aber die Technik ist dennoch nur so gut wie die Menschen, die die Maschinen bedienen und programmieren“, betonte Eckl.
Für ihn steht fest: Industrie 4.0 bedeutet auch die Auseinandersetzung mit arbeitswissenschaftlichen Themen wie Arbeitszeit, Entgelt sowie Arbeits- und Gesundheitsschutz und, nicht zuletzt, ein offener Umgang miteinander.
Eckl: „Die grundsätzliche Akzeptanz zum Umgang mit Industrie 4.0 ist bei den Mitarbeitern da, aber wesentlich sind gute Führungskräfte, denn man muss viel miteinander reden und immer wieder erklären.“
Für Eckls Kollegen Klaus Höfer, Leiter Industrial Engineering beim weltweit größten Verpackungsstahlhersteller Thyssenkrupp Rasselstein mit Sitz in Andernach bei Koblenz, sind die Digitalisierung, die Globalisierung und der demografische Wandel die drei Megatrends, die die Arbeitswelt im Moment verändern.
Erste Auswirkungen dieser Trends seien schon erkennbar und verlangten eine Überprüfung und Anpassung bisheriger Strukturen und Prozesse. So setzt Höfer unter anderem auf flexiblere Schichtmodelle und eine neue Software zur Personaleinsatzplanung inklusive einer speziellen App für Smartphones, über die Mitarbeiter auf Zusatzangebote reagieren können.
Gerald Becker-Neetz vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales stellte die Ergebnisse des Dialogprozesses Arbeiten 4.0 vor, mit dem sich das Ministerium in den letzten beiden Jahren intensiv mit den Veränderungen der Arbeitswelt auseinandergesetzt hat (Die Resultate liegen im Entwurf vor: arbeitenviernull.de).
„Wir glauben, Arbeit hat eine Zukunft“, fasste er die Ergebnisse zusammen. Vor allem das Bildungssystem, Gesundheitsmanagement und Arbeitsschutz müssten aber an die neuen Herausforderungen angepasst werden. Becker-Neetz: „Damit das gelingt, wollen wir mit den Sozialpartnern, eben den Praktikern, weiter im Gespräch bleiben.“
Interview

Der Mensch behält das Steuer in der Hand
Frankfurt. Der Megatrend Digitalisisierung verändert die Arbeitswelt. Was bedeutet das für Mensch und Unternehmen? Danach fragte AKTIV Nikolaus Schade, Leiter Arbeitswissenschaft des Arbeitgeberverbands Hessenmetall in Frankfurt.
Übernehmen bald Roboter und Computer das Steuer?
Roboter und Assistenzsysteme für körperliche Arbeit verbreiten sich zunehmend. Gleiches gilt für Assistenzsysteme, die Menschen bei informatorischer Arbeit ortsflexibel unterstützen, wie die Datenbrillen oder Tablets. Daraus lässt sich jedoch nicht ableiten, dass voll automatisierte Lösungen auf dem Vormarsch sind und Roboter und Computer den Menschen verdrängen.
Sondern?
Digitalisierung ist nicht gleichbedeutend mit Automatisierung. Sie ermöglicht vielmehr intelligentes Informationsmanagement. Zur richtigen Zeit, am richtigen Ort über benötigte Informationen in passender Form zu verfügen, birgt gewaltige Effizienzpotenziale für Unternehmen. Wir können also Computer und Roboter im Sinne des Menschen „rudern“ lassen, ohne dass sie das Steuer übernehmen.
Und wie bringt man sie zum Rudern?
Die Umsetzung von Industrie 4.0 ist kein Selbstzweck, sondern muss Strategie und Ziele der Unternehmen unterstützen. Eine besondere Herausforderung ist, die Bereiche und Prozesse zu identifizieren, in denen mit digitaler Unterstützung hohe Potenziale zuverlässig erschlossen werden können. Eine Voraussetzung dafür ist, dass stabile und zuverlässige Prozesse und Schnittstellen definiert und standardisiert sind. Auch brauchen die Mitarbeiter ein Systemverständnis, das über die Grenzen ihres eigenen Bereichs hinausgeht.
Was bedeutet das für die Arbeitsplätze?
Wenn wir alles richtig machen, können wir Produktion in Deutschland halten beziehungsweise das Spektrum an Produkten erweitern, die wirtschaftlich in Deutschland zu fertigen sind.