Als die Angst vor der Polizei zu groß wird, nimmt Junmin Zang im Hinterzimmer seines Ladens eine Säge und steigt auf eine wacklige Aluminium-Leiter. Und als er am Abend den Laden verlässt, hat er das, weswegen er sich seit langem mit einem Bein im Knast wähnt, in der Deckenverkleidung versteckt: die Koffer mit gefälschten Luxus-Uhren.

Eine ganze Weile ist das jetzt schon her. An diesem Morgen steht Zang, 27, vor seinem kioskgroßen Laden in einer Seitenstraße im Zentrum Schanghais und erzählt, warum er falsche Rolex an Ausländer verhökert, obwohl darauf mittlerweile Gefängnis steht.

„Razzien werden häufiger“

Die Miete, der dreijährige Sohn, sagt er. Was seine Frau und er mit dem Verkauf quietschbunter Handtaschen verdienen, das reiche einfach nicht. Trotz zwölf Stunden Arbeit täglich, an sieben Tagen in der Woche. Aber die falschen Luxus-Uhren, zusammengenietet in geheimen Hinterhof-Klitschen, die brächten Geld.

„Die Razzien werden häufiger“, sagt er. „Die wollen uns loswerden, wir sind nicht gut für das Image von Schanghai.“ Die Zukunft? „Schwarz.“

Szenenwechsel. Der Jungmanager Jason Shen, schwarzes Edel-Hemd, weiße Hose, schlendert durch die blitzblanke Werkhalle des deutschen Ventilatorenherstellers ebm-papst am Stadtrand. Er redet in einer Tour. Erzählt von „Prozessoptimierungen“, „Verbesserungsprogrammen“, „Qualitätssicherungsmaßnahmen“.

Und von den 1,2 Millionen Hightech-Lüftern für Haushaltsgeräte, Autos und Klimaanlagen, die das Werk pro Jahr ausstößt.

Shens Leben ist eine chinesische Bilderbuch-Karriere: Ingenieursstudium an einer Elite-Universität, ein Master in Wirtschaftswissenschaften obendrauf, erste Berufsjahre im Dienste eines französischen Autozulieferers. Seit einem Jahr ist Shen jetzt Werkleiter bei ebm-papst – mit gerade mal 33 Jahren. „Ich bin ein Macher“, sagt er, sein Tempo sei immer Vollgas, „wie das des ganzen Landes“. Die Zukunft? „Glänzend“, sagt er. Und lächelt.

Zwei Leben, so verschieden wie Ying und Yang:

Der von der Polizei bedrängte Plagiate-Dealer Junmin Zang und der aufstrebende, auf Innovationen gepolte Werkleiter Jason Shen. Die beiden Chinesen, unterwegs im schier endlosen Hochhausmeer des 20-Millionen-Einwohner-Molochs Schanghai an der chinesischen Ostküste, stehen stellvertretend für das alte und das neue Reich der Mitte.

Zumindest hätte das die Regierung in Peking gern so. Das Land will endlich mehr sein als nur billige Werkbank der Welt, die im Zweifel gerne mal abkupfert. China will sich zum Hightech-Standort mausern. Und es will nicht nur. Es muss!

Schwächelndes Wachstum macht kommunistische Führung nervös

Denn: Nach drei Jahrzehnten mit Wachstumsraten von durchschnittlich 10 Prozent pro Jahr läuft der Motor der mittlerweile zweitgrößten Volkswirtschaft der Erde in letzter Zeit unrund. Ein Grund dafür ist die schwächelnde Nachfrage aus Euro-Land und den USA. Für 2012 wird deshalb „nur“ noch ein Plus von 7,7 Prozent erwartet.

Im Rest der Welt würden angesichts solcher Zahlen die Korken knallen.

Bei Chinas Mächtigen aber sorgen sie für schwitzige Hände. Aus gutem Grund. Selbst wenn die Kaufkraft in Übersee wieder anzieht – die chinesische Party dürfte nicht mehr so weitergehen wie bisher. Ökonomen sind sich einig: Die Welt wird auf Dauer nicht immer mehr Billig-Waren „made in China“ abnehmen. Das Land aber braucht dauerhaft hohes Wachstum, um ausreichend Jobs zu schaffen und so das politische System zu stabilisieren.

China soll Wohlstandsgesellschaft werden

Deshalb schwenkt das Dickschiff China jetzt auf einen neuen Kurs – Wachstum nach innen! Chinas 1,3 Milliarden Bürger sollen, so steht es im zwölften Fünfjahresplan der kommunistischen Führung, mehr konsumieren. Und so die Wirtschaft neu und dauerhaft ankurbeln. Dafür aber brauchen sie mehr Einkommen. Und das erzielt man nur mit dem Verkauf von besseren, teureren Produkten. Hightech also.

Ein Riesenreich wirft das Ruder herum: Wohlstandsgesellschaft statt Niedriglohnland. Eine beispiellose Herkulesaufgabe. Kann sie gelingen?

Video: Unterwegs in Schanghai

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Löhne in Schanghai steigen deutlich

Helmut Schöneberger ist ein nüchterner Mann, Übertreibungen sind seine Sache nicht. Der 67-Jährige hat Manager-Stationen in halb Europa und in Mexiko hinter sich, seit zweieinhalb Jahren leitet er die Geschicke des Ventilatorenherstellers ebm-papst in Schanghai, als Chef von Werkleiter Shen.

Es ist Mittagszeit, doch Schöneberger verschmäht die Kantine mal wieder, er brütet lieber in seinem Büro über Zahlenkolonnen und beißt in einen Apfel.

„Dieses Land ist längst aufgewacht, es hat die Ärmel aufgekrempelt“, sagt der deutsche Manager zwischen zwei Bissen Boskop, für seine Verhältnisse fast ein Gefühlsausbruch. Manchmal sei das Tempo unfassbar, mit dem in China Entwicklungen angestoßen würden. „Jeder rennt hier, jeder will ein Stück vom neuen Wohlstandskuchen.“

Dass dieser Kuchen, ganz nach Pekings Plan, schon größer geworden ist, sagen Schöneberger schon die Zahlen aus der firmeneigenen Buchhaltung. „Da“, sagt er und tippt dabei mit dem Zeigefinger auf seinen Papierstapel, „allein 2011 sind die Löhne am Standort Schanghai um 14 Prozent gestiegen.“

Millionen-Investitionen in neues Forschungszentrum

Und das ist nicht das Ende der Fahnenstange. Um noch schneller ausgeklügelte Ventilatoren für Chinas boomende Windenergie oder die Verkehrsinfrastruktur entwickeln zu können, investierte ebm-papst hier unlängst Millionen in ein flammneues Forschungszentrum. Dessen Prunkstück: ein riesiger Windkanal für Luftleistungs- und Akustiktests. „70 Ingenieure und Techniker werden wir dann hier haben“, so Schöneberger. Und die lassen sich mittlerweile gut bezahlen, zumindest für chinesische Verhältnisse.

12.000 Yuan Monatsgehalt, rund 1.500 Euro, muss Schöneberger für einen Ingenieur mit ein paar Jahren Berufserfahrung auspacken. Der Manager: „China ist schon lange kein Billiglohnland mehr.“

Stimmt das wirklich? Der Eindruck bestätigt sich, wenn man das Treiben auf Schanghais grellbunter Einkaufsmeile Nanjing Road als Maßstab nimmt.

Frierender Obdachloser neben funkelndem Maserati

Luxus-Shop reiht sich hier an Luxus-Shop. Armani neben Prada, Boss neben Dior, Porsche neben Apple, so geht das immer weiter, kilometerlang. Auf dem Prachtboulevard „Bund“ am Flussufer des Huangpu flanieren die Reichen und Schönen, sie stürmen Edel-Clubs und tanzen zu Techno, bevor sie ihre Audis und BMWs wieder nach Hause kutschieren. Die Straßen, die Clubs, die Shops, alles scheint voller Menschen mit den Taschen voller Geld. Und doch: Sie sind nur die Minderheit.

Zwar leben laut aktuellem „Hurun-Report“ allein in Schanghai 140.000 Euro-Millionäre. In ganz China lag die Zahl 2011 sogar erstmals über der Marke von einer Million – nach einem Anstieg von 7 Prozent binnen Jahresfrist.

Andererseits aber liegt das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen der Stadtbevölkerung nur bei mageren 3.000 Euro – im Jahr. Und die 700 Millionen Landbewohner, so die Zahlen der chinesischen Statistik, müssen sich mit 660 Euro jährlich durchschlagen. Zum Vergleich: Der Durchschnittsdeutsche hat pro Jahr rund 20.000 Euro zur Verfügung.

Wie soll man sie also schließen, diese bizarre chinesische Schere zwischen Arm und Reich? Wie soll Chinas Bevölkerung damit klarkommen, dass in ihrer Vorzeige-Stadt Schanghai auf der linken Straßenseite ein Obdachloser ohne Beine in der Kälte zittert, während am rechten Straßenrand gerade ein Maserati einparkt?

Gigantischer Binnenmarkt soll China stabilisieren

Einer Antwort kann man sich nur nähern. So wie Markus Taube, Sinologe und Professor für Ostasienwirtschaft an der Universität Duisburg. Seine Überzeugung: „Die Ungleichverteilung ist ex­trem, keine Frage – trotzdem haben die allermeisten Chinesen vom jahrelangen Wirtschaftsboom profitiert.“

Taube ist so etwas wie ein Wanderer zwischen den Welten, er pendelt ständig zwischen China und Europa. Und was ihn zuversichtlich stimmt, ist die schiere Wucht der Masse: „600 Millionen Chinesen leben in Städten.“ Auch wenn sie es nach deutschen Maßstäben noch nicht dicke haben – in der Masse ballt sich da gewaltige Konsumkraft zusammen. „Da tut sich ein gigantischer Binnenmarkt auf“, sagt er, „und der wird China stabilisieren in dieser Phase der Neuausrichtung.“

Zukunft jenseits der Billigproduktion

Auf die Macht des Mega-Markts hofft auch Klaus Schäfer. Der China-Chef des deutschen Chemieriesen Bayer Material Science sitzt in seinem Büro in einem Wolkenkratzer im futuristischen Schanghaier Stadtteil Pudong und nippt an seiner Cola light. Es ist mal wieder spät geworden, draußen auf den nachtschwarzen Fluten des Huangpu ziehen die bunt erleuchteten Ausflugsschiffe ihre Bahn.

Schäfer liebt diesen Blick, die pulsierende Urbanität gibt ihm Kraft, sagt er. Die braucht er auch. Denn dieses Land kostet ihn Nerven. „China muss jetzt den Schritt hin zu einer innovativen, wissensbasierten Gesellschaft schaffen.“ Nur das verschaffe dem Land eine Zukunft jenseits der Billigproduktion. „Es gibt eine gute Chance, dass das klappt. Aber keine Garantie.“

Woran es krankt, erlebt Schäfer im Tagesgeschäft. Draußen an der Hangzhou-Bay, 90 Minuten Fahrt vom Zentrum, liegt das Bayer-Werk. 1 200 Mitarbeiter, tagtäglich herangekarrt mit Dutzenden von Bussen, fertigen hier spezielle Kunststoffe unter anderem für Gebäude-Isolierungen. Ein unfassbar großer Markt angesichts des Baubooms. Problem: Auf dem Bau fehlt es an Fachkräften für den Umgang mit solchem Material. In Kooperation mit Hochschulen bietet Bayer Kurse für Studenten und Fachkräfte, „um ihnen beizubringen, wie man ein Gebäude richtig dämmt“, seufzt Schäfer.

Hightech „made in China“ statt Billig-Zeugs – ist das nicht Utopie, wenn’s doch selbst bei der Hauswand-Dämmung hapert?

„Löcher in Bleche fräsen – das reicht nicht mehr“

Vielleicht braucht es die Gelassenheit von Xiaolong Hu, um Chinas Weg ein wenig besser zu begreifen. Hu, 36, leitet das Schanghaier Büro der deutschen Beratungsfirma Staufen. Chinas Firmenlandschaft kennt er aus dem Effeff, er betreut Weltkonzerne wie den staatlichen Maschinenbau-Giganten SYMG, zig Mittelständler, aber auch deutsche Global Player wie BMW und Volkswagen.

„China weiß, dass es nicht mehr weiterkommt, wenn es weiter nur Löcher in Bleche fräst“, sagt Hu. „Es gibt ja auch schon ein paar Leuchttürme“, etwa Solar, Windenergie oder Telekommunikation, doch auf anderen Feldern, wie dem Autobau, hinke man hinterher. Es werde Jahre dauern, bis sich dort „echte Innovationskultur durchgesetzt hat, man kann das nicht einfach verordnen. Aber es wird gelingen.“

Hu macht eine Pause, dann fragt er: „Wie wird ein Klavierspieler zum Virtuosen?“

Wieder Pause, dann: „Indem er es immer wieder probiert.“