Leverkusen. Sarah Jung schnappt sich Handschuhe und Kolben und macht sich an die Arbeit. Geschickt stellt die angehende Pharmakantin eine Wirkstoff-Suspension her. Also alles alltäglich im Ausbildungszentrum vom Chemie- und Pharmakonzern Bayer in Leverkusen.

Aber: Die Kölnerin ist seit ihrer Geburt sehbehindert. „Menschen sehe ich nur stark verschwommen, Farben kann ich nicht unterscheiden“, erklärt die 19-Jährige. Dank moderner Technik meistert sie ihre Ausbildung dennoch. Diverse Geräte helfen ihr dabei: „Eine Kamera nimmt meinen Arbeitsplatz auf“, sagt sie. „Die Aufnahmen werden stark vergrößert auf einen Bildschirm übertragen. So kann ich Messwerte kontrollieren oder prüfen, ob die Kolben sauber sind.“

Jung nimmt bei Bayer an einem Pilotprojekt teil, das zum Programm „Starthilfe“ gehört. Die Initiative ist seit fast 30 Jahren etabliert und richtet sich an Jugendliche mit Förderbedarf – seit 2015 spricht man auch junge Leute mit schwerem Handicap gezielt an.

In einem Orientierungsjahr lernen die Teilnehmer Berufe wie Chemikant, Pharmakant, Chemielaborant oder Industriemechaniker kennen. Danach beginnt die reguläre Ausbildung. Von den ersten fünf Teilnehmern haben vier, darunter Jung, den Schritt geschafft.

Reguläre Ausbildung traut sich nicht jeder zu

Das Projekt soll helfen, mehr Menschen mit Behinderung im Unternehmen zu integrieren. Laut Gesetz müssen mindestens 5 Prozent der Stellen mit ihnen besetzt werden. Da es an Bewerbern mangelt, geht Bayer neue Wege: „Im kaufmännischen Bereich setzen wir bereits Azubis mit Behinderung ein“, sagt Ausbildungskoordinator Dirk Pfenning. „Die technischen Berufe sind Neuland für uns.“ Unterstützung kommt von der Bundesagentur für Arbeit. Experten prüften die Arbeitsplätze, halfen, die Eignungstests barrierefrei zu gestalten und bewilligten Hilfsmittel.

Dennoch nutzen 2016 nur drei junge Leute mit Behinderung die Starthilfe. „Viele Eltern, Förderschulen und manche Jugendliche befürchten, eine reguläre Ausbildung sei nicht zu bewältigen“, bedauert Pfenning. „Dabei bieten wir mit dem Orientierungsjahr an, herauszufinden, welche Tätigkeiten am besten zu wem passen.“

Sarah Jung erinnert sich gut an die ersten Monate: „Ein Chemikant zum Beispiel muss die Monitore in der Messwarte beobachten. Ich wusste schnell, dass das nichts für mich ist.“ Kollegen mit einer Sprach- oder Gehbehinderung hingegen können hier arbeiten. Mit ihrem Handicap ging Jung von Anfang an offen um. „Gleich am ersten Tag habe ich den Kollegen erklärt, dass ich ab und zu ihre Hilfe brauchen werde“, erinnert sie sich und lächelt: „Meine Mit-Azubis nehmen mich toll auf, auch privat machen wir öfters was zusammen.“

Ob es später in anderen Abteilungen im Werk genauso gut funktioniert wie im Ausbildungszentrum, wird die Praxis zeigen. „Wir werden die betrieblichen Ausbildungsplätze speziell aussuchen und wahrscheinlich Hilfsmittel einrichten“, sagt Pfenning, „einen Versuch ist es allemal wert! Wir glauben an die positiven Effekte der Inklusion und werden diese weiterhin aktiv unterstützen.“