Freiburg. Eben noch hat er freundlich gegrüßt, jetzt ist der Anwohner auf 180. „Ein Wahnsinn ist das doch, so eine Scheißidee!“ Mit der Kelle in der Hand fuchtelt er wild in Richtung des weiten Felds hinter seinem Haus, der Mörtel, mit dem er gerade eine Beeteinfassung flickt, fliegt in die Rabatten.

Der Grund für den Furor des Mannes liegt kurz hinter seinem Gartenzaun: die Freiburger Dietenbach-Niederung. Ein gut 100 Hektar großes Areal, knapp 15 Fahrradminuten vom Zentrum. Wo sich an diesem Maitag Getreide sanft im Wind wiegt, soll bald ein komplett neuer Stadtteil für 15.000 Menschen aus dem Acker gestampft werden.

Neuer Stadtteil soll Wohnraum für 15.000 Menschen schaffen

Seit sechs Jahren liegen die Pläne jetzt auf dem Tisch. Genauso lange wird erbittert gezofft. Im Fokus der Kritiker: Professor Rüdiger Engel, Chef der Projektgruppe Dietenbach, verantwortlich für die Planungen des neuen Stadtteils. „Mit Widerstand gegen unser Projekt habe ich immer gerechnet“, gibt Engel zu. „Aber Kraft kostet einen das trotzdem.“

Denn Freiburg, Engels Stadt, platze doch schier aus allen Nähten, „wir brauchen neue Wohnungen, sonst können sich Normalverdiener das Leben in Freiburg bald nicht mehr leisten“. Ein Punkt übrigens, an dem sich Gegner wie Befürworter des neuen Stadtviertels eigentlich grundsätzlich einig sind: Wohnungen müssen her! Viele! Nur wie?

Protest: In Freiburg wehren sich die Landwirte, auf deren Äckern das neue Viertel gebaut werden soll.

Mangelware Wohnraum – wer in Deutschlands Ballungsgebieten derzeit eine neue Bleibe sucht, hat schlechte Karten. Oder muss ganz tief in die Tasche langen. Fast egal, wo man hinblickt: In den Städten gehen die Mieten durch die Decke. Unrühmlicher Spitzenreiter ist Berlin. Dort stiegen die Mieten bei Neuabschlüssen in den letzten zehn Jahren im Schnitt um fast 30 Prozent. Wohlgemerkt: Die Inflation ist hier schon rausgerechnet! In München, schon immer teures Pflaster, kletterten sie um 24 Prozent. Stuttgart ist mit 12 Prozent dabei.

Geht etwas schief, verzögert sich das Projekt weiter

Eine echte Trendwende ist nicht in Sicht, befürchtet Professor Michael Voigtländer, Immobilienökonom beim Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln: „Der Run auf die deutschen Metropolen wird auch in den nächsten 10 bis 15 Jahren anhalten.“ Weil sich Arbeitsmärkte und Bildungsangebote in den Ballungszentren weiter konzentrierten, dürfte der Siedlungsdruck eher noch steigen, fürchtet Voigtländer.

Was tun? Mieten deckeln? Gar Wohnungsbesitzer enteignen, Zwangsverstaatlichung von Privateigentum also? „Nichts davon schafft auch nur eine einzige neue Wohnung“, kritisiert Voigtländer solch populistische Gedankenblasen. Bekämpfen könne man die Wohnungsnot in den Großstädten nur mit der Kelle in der Hand. „Wir müssen bauen! Doch damit tun wir uns in Deutschland leider einfach schwer.“

Tausende Wohnungen sozial gefördert

Auch in Freiburg ist das so. Und das ist ein Problem – denn die Stadt wächst immer weiter. Mitte der 80er Jahre zählte die sonnige Stadt im Breisgau 180.000 Einwohner, heute 230.000. Jetzt soll das neue Viertel in Dietenbach Druck aus dem Mietkessel nehmen.

Im ersten Stock des futuristischen Freiburger Rathaus-Rundbaus zählt Projektchef Engel auf, was für das neue Stadtviertel spreche: „6.500 Wohnungen, die Hälfte öffentlich gefördert, mit langen Bindungsfristen, damit auch Menschen mit geringerem Einkommen nicht aus der Stadt verdrängt werden.“ Begegnungsflächen und Gastronomie, Kindertagesstätten, eine Schule. Weitgehend autofreie Straßen dank Quartiersgaragen, eine Infrastruktur für E-Mobilität und Carsharing. Sogar klimaneutral soll Dietenbach werden, „im neuen Stadtteil wird mehr Energie erzeugt als benötigt“.

Aber wie gesagt: Seit sechs Jahren wird gezofft. Im Februar brachte schließlich eine Volksabstimmung die Entscheidung. Zwar stimmten da 60 Prozent der Freiburger für den neuen Stadtteil. Aber der Weg bis zum Baustart ist noch immer steinig. „Grundstücksfragen müssen geklärt, eine Gasleitung verlegt werden, ein Bach braucht ein neues Bett“, zählt Engel auf. Es sei wie Jonglieren mit einem Dutzend Bällen, „fällt uns einer runter, verzögert sich wieder alles“. Optimistisch ist der Projektleiter trotzdem: „Ende 2024 werden die ersten Gardinen hängen.“

Bauen? Klar! Aber bitte woanders...

Andernorts dagegen wird es nicht einmal Fenster geben. Denn: Emotionalen Protest gegen so dringend benötigte Wohnungsbauprojekte gibt es nicht nur in Freiburg. Im benachbarten Emmendingen schmierte ein ebenfalls neu geplanter Stadtteil im Bürgerentscheid genauso ab wie Großprojekte in Karlsruhe oder Erlangen. Bebaut werden sollte auch das Tempelhofer Feld in Berlin – die Bürger aber waren dagegen. In München protestieren Anwohner derzeit laut gegen zwei Stadterweiterungen im Norden und Nordosten – die Liste ließe sich weiterführen.

Wenn Bürger gegen Neubürger kämpfen –„Nimby-ism“ nennt die Forschung dieses Phänomen. Die Abkürzung steht für „Not in my backyard“, nicht in meinem Hinterhof. Klar, gebaut werden müsse, aber doch bitte woanders. „Oft sind es Einzelinteressen, der eigene Vorgarten wird im Blick behalten“, wagt sich der Soziologe Andrej Holm von der Berliner Humboldt-Universität an eine Erklärung. Statt der Vorteile einer lebenswerteren Stadt würden überwiegend die negativen Folgen von Bauprojekten gesehen: „Es wird voller, es gibt weniger Parkplätze, und mein schöner Blick wird verbaut“, so Holm.

In Deutschland fehlen laut Schätzungen derzeit etwa 1 Million Wohnungen

300.000 Wohnungen wurden in Deutschland im vergangenen Jahr fertig gebaut. Das klingt viel. „Ist aber in Wahrheit viel zu wenig“, kritisiert der IW-Immobilienökonom Voigtländer. Rund 380.000 Wohnungen müssten es eigentlich sein, „und ich fürchte, das ist derzeit leider unrealistisch“.

Zu wenig Bauland, zu hohe Kosten, zu viel Bürokratie, zu wenig Personal

Natürlich sind dafür nicht allein Blockade-Bürger verantwortlich. Sondern viel zu oft auch der Staat selbst. Im Klartext: Bund, Länder, Städte und Gemeinden. „Es müssten einfach viel mehr Bauplätze ausgewiesen, Flächen entschlossener umgewidmet werden“, so Voitgländer. Das aber geschehe oft zu zögerlich. Auch weil Städte nicht selten die Kosten der Erschließung neuer Baugebiete schlicht scheuten. Zudem verkomplizierten und verteuerten immer neue Vorschriften das Bauen noch zusätzlich, ganz zu schweigen von quälend langen Genehmigungsprozessen in unterbesetzten und unzureichend digitalisierten Bauämtern.

Und: Lange Zeit vertrauten die Stadtväter auf Prognosen, die schrumpfende Einwohnerzahlen prophezeiten. Nur: Die waren halt leider falsch. „Und jetzt switcht man einfach zu langsam um.“ Um das Problem zu lösen, wagt sich Voigtländer ganz weit raus: Und fordert, nicht bloß über neue Viertel auf der grünen Wiese, sondern sogar über den Bau ganzer „Entlastungsstädte“ für aus den Nähten platzende Metropolen wie Berlin nachzudenken. „Klingt vielleicht illusorisch“, gibt der Experte zu. In den Niederlanden aber habe man genau das schon in den 70er Jahren umgesetzt. „Damals hat man die Stadt Alemere als Ventil für Amsterdam gebaut.“ Heute hat die Retortenstadt übrigens mehr als 200.000 Einwohner …

Verdichtung reicht nicht aus

Tun Deutschlands Städte also zu wenig? In Freiburg will man das nicht so stehen lassen. „Wir haben schnell reagiert, verdichten Flächen, wo immer es geht, gehen entschieden gegen Leerstand oder Zweckentfremdung vor“, wehrt sich Chefbaumeister Rüdiger Engel. Das alles aber reiche eben nicht, um den Bedarf zu decken. Deshalb jetzt Dietenbach.

Sogar Verschwörungstheorien habe sich Engel deshalb ausgesetzt gesehen. „Es gibt merkwürdig viel Misstrauen gegenüber vielem, was die öffentliche Hand macht“, sagt er. Das mache seine Arbeit zwar nicht selten mächtig anstrengend. Aber auf dem Spiel stehe ja nicht weniger als eine funktionierende Stadtgesellschaft. „Wenn wir nicht bauen und deshalb gerade junge Familien wegen fehlender Wohnungen aus der Stadt gedrängt werden, verliert Freiburg seine gesellschaftliche Mitte.“