Arnsberg. Es riecht nach Essen und Katzen. Frank Neuhaus stapft die Treppe rauf in den dritten Stock. Eine Frau, Ende 20, steht in der Tür. „Guten Tag. Neuhaus, Gerichtsvollzieher“, stellt er sich freundlich vor. Darf ich reinkommen?“ Er darf.
Neuhaus ist einer von 4.682 Vertretern dieses unpopulären, aber viel beschäftigten Berufsstands in Deutschland. Hier, in diesem Mehrfamilienhaus im sauerländischen Arnsberg, soll er 350 Euro eintreiben. Der Gläubiger: ein Onlinebuchhandel. „Können Sie das bezahlen?“, fragt er. „Nein.“
Zu pfänden gibt es auch nichts, das sieht er sofort. Die junge Frau und ihr Ehemann müssen eine eidesstattliche Versicherung abgeben. Früher sagte man dazu Offenbarungseid. Auf dem Formular müssen sie angeben, was sie haben oder besser: dass sie nichts haben.
Nach 20 Minuten weiter zum nächsten Kunden
Die Folgen: Ab jetzt werden sie vom Amtsgericht in der sogenannten Schuldnerkartei geführt. Der Gläubiger weiß dann, dass hier nichts mehr zu holen ist – und lässt seine Schuldner die nächsten drei Jahre in Ruhe.
6,4 Millionen Bundesbürger sind laut Wirtschaftsauskunftei Creditreform „überschuldet“ – das heißt, dass sie ihre Zahlungspflichten in absehbarer Zeit weder mit Einkommen noch Vermögen noch neuen Krediten decken können. Und rund 130.000 wählen dieses Jahr den Ausweg der „Privatinsolvenz“: Sechs Jahre lang dauert das Verfahren, danach werden die restlichen Schulden gestrichen. Möglich ist das seit 1999; die Bundesregierung will die Verfahrensdauer jetzt auf drei Jahre verkürzen.
Das junge Paar ist überschuldet, aber Privatinsolvenz hat es noch nicht angemeldet. Nur ein Pfändungsschutzkonto eingerichtet: Dort darf seit 2010 ein wenig Geld liegen, für Gläubiger unantastbar, sodass man lebensnotwendige Dinge bargeldlos bezahlen kann. „Das war’s schon“, sagt Gerichtsvollzieher Neuhaus nach 20 Minuten. „Vielen Dank.“ Und damit fährt er weiter zum nächsten „Kunden“, wie er seine Schuldner nennt.
Meist kommt er unangemeldet, wie heute auch. Ein junger Mann steht mit 600 Euro bei einem Fitnessstudio in der Kreide. Er verspricht dem ungebetenen Besucher, in der nächsten Woche in seine Sprechstunde zu kommen und die erste Rate zu bezahlen.
Und weiter: wieder ins Auto, zur nächsten Tür, zur nächsten Klingel. Ein älteres Ehepaar hat Schulden von über 1.000 Euro bei einem Versandhaus.
Metzgereien, Kanzleien und Bordelle
Neuhaus macht bis zu 40 Besuche am Tag. „Die Kunden kommen aus allen Schichten“, erzählt er. „Ich gehe in Familien genauso wie in die Metzgerei um die Ecke, in Anwaltskanzleien, in Tante-Emma-Läden und in Bordelle.“
Einen repräsentativen Überblick darüber, wo die Gerichtsvollzieher am häufigsten auftauchen, hat kürzlich das in Hamburg ansässige Institut für Finanzdienstleistungen (iff) aus der Statistik von Beratungsstellen ermittelt. „Die Überschuldung steht im Zusammenhang mit dem Bildungsniveau“, betont dessen Experte Michael Knobloch.
Der Anteil der Betroffenen ohne Ausbildung liegt laut iff bei 46 Prozent. „Arbeitslosigkeit ist der häufigste Auslöser für eine Überschuldung“, so der Experte. Die durchschnittlichen Verbindlichkeiten von überschuldeten Personen lägen bei 27.000 Euro.
Laut Überschuldungsreport, den das Institut jährlich herausbringt, dauert der Prozess vom Auslöser der finanziellen Krise bis zur Tilgung aller Schulden im Durchschnitt 15 Jahre. Gerichtsvollzieher Neuhaus kann das bestätigen: „Ich habe an die 50 Stammkunden – die kenne ich, seit ich diesen Job mache, und das sind jetzt immerhin schon zwölf Jahre.“
In dieser Zeit stand er auch häufiger mit einem mulmigen Gefühl vor Türen. „Seit Karlsruhe bin ich noch vorsichtiger geworden.“ Dort wurde im Juni ein Gerichtsvollzieher bei einer Zwangsräumung erschossen.
Drohbriefe und Beschimpfungen
Der Umgang mit gefährlichen Situationen ist in diesem Beruf existenziell. „Aber nur in zehn von 1.187 Ausbildungsstunden beschäftigen wir uns mit Gesprächsführung, Deeskalation oder Stressbewältigung“, so Neuhaus. „Das ist definitiv zu wenig.“ Mit Drohbriefen und Beschimpfungen wurde er schon öfters konfrontiert. Und einmal hat ein Kunde bei einer Zwangsräumung einen Staubsauger nach ihm geworfen.
Und was ist mit dem rot-weißen Pfandsiegel, im Volksmund Kuckuck genannt? Der kommt heutzutage eher weniger zum Einsatz. Die Leute haben meistens keine Dinge mehr, die so wertvoll sind. „Manchmal rieche ich schon im Hausflur, dass da nichts zu pfänden ist.“