Goslar. Dass er Wind säen würde mit seiner Idee, wusste er. Aber als der Sturm dann kam, heftig und über Nacht, war auch Oliver Junk verblüfft. Das Medienecho. Die entrüsteten Bürger. Die Schmähungen im Internet. „Das habe ich so nicht erwartet“, sagt der 39-jährige CDU-Bürgermeister von Goslar.

Es ist ein regnerischer Nachmittag im Januar, Junk sitzt in seiner Amtsstube zwischen Aktenbergen und Papierstapeln und spricht über diese Idee, mit der er das alles losgetreten hat. Sie lautet: „Wir wollen mehr Flüchtlinge nach Goslar holen! Aus Syrien, dem Irak, Afghanistan!“

„Wir haben Wohnraum, wir haben Jobs, und wir brauchen neue Bürger!“

Woher auch immer sie kämen, sie seien willkommen. „Sie sind jung, oft gut ausgebildet. Flüchtlinge sind eine Chance für unsere Wirtschaft und die ganze Stadt.“

Asylbewerber als Chance – man muss dieser Tage wohl bis in die niedersächsische Provinz reisen, um solche Töne zu hören.

Denn: Andernorts ächzen Städte unter dem stetig anwachsenden Flüchtlingsstrom. Laut Bundesamt für Migration stellten im vergangenen Jahr über 173.000 Menschen in Deutschland einen Antrag auf Asyl. Fast 60 Prozent mehr als noch 2013 – und so viele wie seit über 20 Jahren nicht mehr.

Ein Ende des Ansturms ist nicht in Sicht: Weil insbesondere in Afrika und im Nahen Osten Kriege und Krisen nicht abreißen, erwarten die Behörden auch für 2015 steigende Flüchtlingszahlen.

Die deutsche Willkommenskultur scheint mit der Entwicklung nicht so recht Schritt halten zu können. Neben den Märschen der islamfeindlichen Pegida-Bewegung sorgten zuletzt Pläne deutscher Kommunen, Asylbewerber in Baumärkten oder gar ehemaligen Konzentrationslagern unterzubringen, international für eher unrühmliche Schlagzeilen.

Aber da wäre ja noch Goslar. Bürgermeister Junk steht am Fenster seines Büros, draußen regnet es immer noch, Passanten eilen mit hochgeschlagenen Kragen übers Kopfsteinpflaster, vorbei an Fachwerk-Fassaden der historischen Altstadt, die zum Weltkulturerbe der Unesco zählt. Idyllisch wirkt das alles, als wäre die Welt hier noch in Ordnung.

Ist sie aber nicht. Wie unter einem Brennglas kann man in Goslar beobachten, was der demografische Wandel anrichten kann. Die Stadt schrumpft, in manchen Vierteln stehen ganze Blocks leer. „Wir haben in den letzten zehn Jahren 4.000 Einwohner verloren“, bekennt Junk.

Die heimische Wirtschaft spüre den Mangel an Arbeitskräften deutlich, halte sich mit Investitionen schon zurück. „Die Unternehmen fragen mich ständig, ob sie hier in zehn Jahren überhaupt noch Leute finden.“

Was, so Junk, spreche also in Gottes Namen dagegen, in der 50.000-Einwohner-Stadt mehr Flüchtlinge unterzubringen als bisher? „Wir haben Wohnraum, wir haben aufgeschlossene Arbeitgeber. Und wir brauchen neue Bürger, die sich was aufbauen wollen.“

Könnte er recht haben mit seiner Idee vom „Asylbewerber als Chance“? Professor Herbert Brücker, Ökonom an der Uni Bamberg, beantwortet das so: „Auch Flüchtlinge können erfolgreich in den Arbeitsmarkt integriert werden, das zeigen die Beispiele derer, die vor Jahren kamen und heute hier leben und arbeiten.“

Unterstützend wirke sich da aus, dass Asylbewerber jetzt bereits nach drei Monaten eine Arbeit annehmen dürfen. Zum Wohle aller, findet Brücker: „Dann zahlen sie Steuern und Abgaben.“ Zwar erwirtschafteten Flüchtlinge in der Regel niedrigere Erträge als reguläre Zuwanderer. „Aber je schneller wir sie in den Arbeitsmarkt integieren, umso größer die Gewinne“, betont Brücker.

Das sieht längst nicht jeder so, auch in Goslar nicht. Als „Totengräber“ und „Volksverräter“ musste sich Jungbürgermeister Junk bereits beschimpfen lassen. Selbst die Kreisverwaltung war vergrätzt. Der Bügermeister, heißt es eisig, sei vorgeprescht, habe aber weder Geld noch ein Konzept.

Der Rest der Welt scheint da gnädiger: Der britische „Independent“ beispielsweise porträtierte Bürgermeister Junk zuletzt als Gegenpol zu den Pegida-Anführern. Im Beitrag heißt es wörtlich: „Oliver Junk dürfte noch nicht als deutsches Äquivalent zu Martin Luther King anerkannt sein. Aber auch er hat einen Traum.“

Unterm Strich: Deutschland profitiert

  • Positiver Wanderungssaldo: 430.000 Menschen wanderten 2013 mehr nach Deutschland ein, als das Land verließen.
  • Entlastung für den Sozialstaat: Laut Bertelsmann-Stiftung zahlen in Deutschland lebende Ausländer mehr in die Sozialkassen ein, als sie an Leistungen beziehen. 2012 betrug das Plus 22 Milliarden Euro oder, bei 6,6 Millionen hier lebenden Menschen mit ausländischem Pass, 3.300 Euro pro Kopf.