Wanfried. Kurz vor Mittag kommt die Karawane, klingelnd. Zwei Dutzend Rentner auf E-Bikes, bunte Helme, Socken in Sandalen. Wilhelm Gebhard aber ist hin und weg: „Oh, Touristen!“ Der Bürgermeister des 4.200-Einwohner-Orts Wanfried in Nordhessen springt aus dem Korbstuhl des Straßencafés und macht winkend auf Empfangschef: „Willkommen in der Mitte Deutschlands!“ Auf dem Gehsteig lachen ein paar Passanten, auch Wanfrieds erster Bürger grinst. Weil er das so liebt: Endlich wieder Leben in seiner Stadt!

Kann man ihm nicht verdenken. Denn es ist noch nicht so lange her, da drohten hier die Lichter auszugehen. Wanfried, das war noch vor ein paar Jahren ein sicherer Eintrag auf der langen Liste schrumpfender Dörfer in Deutschland. Viel Wegzug, viel Leerstand, die Prognosen duster. Dann wurde Gebhard Bürgermeister. Und alles kam anders. Dazu später mehr …

Landflucht ist kein Naturgesetz

Neues Leben im todgeweihten Dorf – nach landläufiger Meinung kann es so etwas ja eigentlich gar nicht geben. Ist dieser Tage in Deutschland von Landflucht und Binnenwanderung die Rede, klingt das ja meist so: boomende Städte! Explodierende Mieten! Verkehrschaos in den Metropolen! Und auf der anderen Seite: sterbende Dörfer, in denen bloß noch der Hahn kräht. Aber schon lange kein Kind mehr. Wo der nächste Supermarkt eine Tagesreise entfernt liegt. Und der Bus einmal am Tag kommt. Wenn überhaupt.

Die amtlichen Zahlen scheinen das zu belegen. Schon heute leben drei Viertel der Deutschen in Städten. Zwischen 2005 und 2015 wuchs die Zahl der Bewohner der 77 deutschen Großstädte laut Statistik um 1,4 Millionen Menschen. Auf der anderen Seite verloren zwischen 2010 und 2014 rund die Hälfte der 402 Landkreise an Einwohnern. Das belegt eine aktuelle Studie des Berliner Forschungsinstituts Empirica.

Wachstumsschmerzen in den Boomregionen, unheilbare Schrumpfungspein in der Provinz? „Ganz so einfach ist das nicht“, sagt Manuel Slupina, Demografieexperte beim Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Weil: Land sei eben nicht gleich Land. „Regionen in Pendeldistanz zu Großstädten müssen sich meist keine großen Sorgen machen.“

Nach der Wende ging’s bergab

In entlegenen Regionen, egal ob in Brandenburg oder Eifel, sehe das zwar anders aus. „Da zieht es besonders die Jungen zwischen 18 und 24 Jahren verstärkt in die Städte.“ Aber: „Es gibt trotzdem viele Dörfer, die ihr Schicksal in die eigenen Hände genommen und sich auch in schrumpfenden Regionen zu Wachstumsinseln gemausert haben.“

Dörfer wie Wanfried. Malerisch schmiegt sich der kleine Ort in sanfte Hügel aus Mischwald. Dazwischen schlängelt sich das blaugrüne Band der Werra, zur Grenze nach Thüringen ist es nur ein Steinwurf. Vor der Wende zählte Wanfried 5.000 Seelen und 1.300 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze. Mit dem Mauerfall aber begann der Abstieg. „15 Jahre nach der Wende war die Hälfte der Jobs weg“, sagt Bürgermeister Gebhard.

Wenige Kilometer zwischen Blüte und Ödnis

Mit der Arbeit gingen die Bürger. Jeder fünfte Wanfrieder kehrte der Heimat den Rücken. Im eine Autostunde entfernten Kassel blickte man abschätzig aufs verwunschene Werratal. „Wir leben nicht am Arsch der Welt, aber wir können ihn sehen“, hieß es dort. Gebhard: „Da haben wir angefangen zu kämpfen.“

Mit einer Handvoll Mitstreiter gründete Gebhard eine Bürgergruppe. Deren Ziel: Die vielen leer stehenden Fachwerkhäuser in der historischen Altstadt zu restaurieren und zu vermarkten. „Anfangs hat man uns verlacht“, erinnert sich Gebhard. „Die alten Buden will doch keiner, hieß es.“

Klarer Fall von Denkste. Die Arbeit der Bürgergruppe schlug hohe Wellen, sogar bis nach Holland. „Niederländer lieben Fachwerkhäuser“, sagt Diana Wetzestein, Mitglied der Gruppe. Wie viele Interessierte sie mittlerweile durch den Ort geführt hat, weiß sie nicht mehr.

Die Bilanz ist verblüffend: Mehr als 60 Häuser hat man mittlerweile neu vermittelt, teils aufwendig restauriert. „Jedem steht unsere Gruppe mit Rat und Tat zur Seite, wir bieten alles, von der Erstberatung bis zur Architektenleistung“, sagt Wetzestein. Die Hauskäufer kostet das keinen Cent. „Wir sind alles Ehrenamtler.“

Der Lohn der Mühe: Der Einwohnerschwund ist gestoppt, der Ort freut sich über mehrere Hundert Neubürger, darunter viele Familien mit Kindern. „Unser Ort atmet wieder, es gibt neuen Lebensmut“, bilanziert Rathauschef Gebhard.

Bürokratie macht Dörfern das Leben schwer

Es sind Graswurzel-Initiativen wie die Wanfrieder Bürgergruppe, die der Demografie-Forscher Manuel Slupina für das schärfste Schwert im Kampf gegen die Landflucht hält: „Zivilgesellschaftliches Engagement kann für demografische Stabilität sorgen.“ Häufig, so Slupina, seien es die Zähigkeit und der Ideenreichtum Einzelner, die das Blatt für den Ort wendeten.

Vordergründig betrachtet wirken die Projekte dabei oft eher niedlich: Ein Bürgerbus hier, eine mobile Arztpraxis dort, ein multifunktionaler Dorfladen, in dem nicht nur frische Milch verkauft wird, sondern auch Kfz-Schilder über die Theke gehen. „Aber da stecken Leute hinter, die sich in eine Idee verbissen haben, die Teile der Versorgung selbst übernehmen. Und ihren Ort so attraktiv halten.“ Wie erfolgreich solche Vorhaben seien, sehe man auch daran, dass häufig zwischen sterbenden und aufblühenden Dörfern nur wenige Kilometer lägen.

Noch viel zu oft aber stehen die Bürgerinitiativen allein im Regen. Für öffentliche Fördergelder müssten sich die Dörfler zu häufig durch den Bürokratie-Dschungel quälen. „Die Leute dürfen aber nicht durch ewige Antragsarien zermürbt werden.“

Von denen kann man auch in Wanfried ein Lied singen. Öffentliche Fördergelder? „Haben wir einmal bekommen, grausam war das“, schnaubt Bürgermeister Gebhard und steckt sich die Sonnebrille ins gegelte Haar. Sein Handy klingelt, ein schnelles Gespräch, kurze Anweisungen, hemdsärmelig, so regiert der Mann seine Stadt. „Mit unserer unkonventionellen Herangehensweise reißen wir einfach mehr“, sagt er. „Für jedes mit Fördergeldern gekaufte Brett drei Seiten Begründung? Was sind das bloß für Verwaltungshengste?“ Gebhard grinst wieder, in solchen Momenten denkt man, der Mann könnte auch Sand in der Wüste verticken.

Aber der Erfolg gibt ihm recht. Aufträge über 4 Millionen Euro seien durch die Fachwerksanierungen an örtliche Handwerker gegangen. Jobs gebe es wieder genug im Dorf, „wir haben hier Fachkräftemangel“. Weil auch Familien den Ort wieder als neues Zuhause wählten, konnte die Infrastruktur erhalten werden. Supermärkte öffneten neu, Fachärzte blieben vor Ort. Drei Kindergärten gibt es in Wanfried, „und die platzen sogar schon aus den Nähten“.

Mut machen sollte kleinen Gemeinden im Land auch eine aktuelle Bevölkerungsbefragung. Nach der nämlich würden sich nur 21 Prozent der Bundesbürger für ein Leben in der Großstadt entscheiden – wenn sie frei und unabhängig von ihrer finanziellen Situation entscheiden könnten. 45 Prozent dagegen würden lieber ländlich wohnen.

„Die Vorstellung, dass alle Leute ins hippe Berlin wollen, existiert wahrscheinlich nur in Berlin“, kommentiert Matthias Woltmann vom Deutschen Landkreistag die Zahlen. Derzeit darbende Örtchen könnten ihre Schwäche durchaus überwinden, diese sei „kein unabänderliches Schicksal“.

Schützenhilfe im Kampf gegen den Fortzug gerade jüngerer Bevölkerungsschichten könnte zudem die Digitalisierung leisten. Einer Umfrage des Verbands Kommunaler Unternehmen zufolge könnte die Verlagerung zentraler Lebensbereiche wie Bildung, Medizin und Wirtschaft ins Web die Unterschiede zwischen Stadt und Land durchaus ein Stück weit auflösen.

Voraussetzung dafür: schnelles Internet auch in der Pampa! In Wanfried zückt Bürgermeister Gebhard bei dem Stichwort sein Smartphone. „Hier, 4G! Überall.“ Und 2019 werde das alles noch besser. „Breitband! Dann liegt hier Glasfaser.“ Dann grinst er wieder.