Berlin. Die meisten ahnen es schon: Vier von fünf Bürgern rechnen laut Allensbach-Umfrage damit, dass „die gesetzliche Krankenversicherung immer teurer wird“. Kein Wunder – 2015 hatten die Kassen noch 1,1 Milliarden Euro Defizit verbucht. Nun aber sorgt eine gute Nachricht für Erstaunen: 2016 haben sie 1,4 Milliarden Euro mehr eingenommen als ausgegeben!

Stolz verkündet daher Gesundheitsminister Hermann Gröhe: „Die gesetzliche Krankenversicherung steht auf einer guten Grundlage.“ Ist da was dran?

Klar: Die Konjunktur ist stabil, die Beschäftigung auf Rekordniveau, die Sozialbeiträge sprudeln. Und die Ausgaben steigen langsamer als erwartet.

Zudem gibt’s 2017 was extra: Die Bundesregierung lässt den Kassen einen Zuschuss von 1,5 Milliarden Euro aus den Reserven des Gesundheitsfonds überweisen. Unter anderem, um „einmalige Investitionen in die telemedizinische Infrastruktur“ zu finanzieren. Auch deshalb mussten zu Jahresbeginn „nur“ ein Viertel der 113 Krankenkassen ihren jeweiligen Zusatzbeitrag erhöhen.

Experten geben allerdings keine Entwarnung. Die zuletzt gute Entwicklung der Finanzen dürfe nicht den Blick dafür trüben, „dass wir Strukturreformen brauchen, um den dynamischen Ausgabenanstieg zu bremsen“, mahnt etwa Doris Pfeiffer, Chefin des GKV-Spitzenverbands der gesetzlichen Kassen. Die dicke Rechnung werde noch kommen, sagt Volker Hansen, Abteilungsleiter für Soziale Sicherung bei der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Denn: „Die Regierung hat nichts getan, um die Krankenversicherung zukunftsfest zu machen. Von einer ,guten Grundlage‘ kann daher nicht die Rede sein.“

Tatsache ist: Die Kostendynamik in unserem Gesundheitswesen ist ungebremst. Mehr als 220 Milliarden Euro geben die gesetzlichen Krankenkassen mittlerweile pro Jahr aus. Seit 2007 legten die Ausgaben im Durchschnitt um jährlich 4 Prozent zu. Und wenig spricht dafür, dass sich das groß ändert.

Denn, so sagt es die GKV-Chefin Pfeiffer: „Der grundsätzliche Druck bleibt im System.“

Dieser grundsätzliche Druck – den erzeugen neue Medizintechnik und innovative Arzneien, steigende Preise und größere Mengen. Dazu kommen historisch gewachsene Überkapazitäten: Mit 823 Krankenhausbetten je 100.000 Einwohnern liegt Deutschland europaweit mit Abstand an der Spitze. Dass deutlich weniger Hospitäler genügen würden, steht für Experten fest.

Hinzu kamen die Reformen von Gesundheitsminister Gröhe. Sie bescherten den 72 Millionen Versicherten zum Beispiel mehr Prävention, neuen Service für einen raschen Termin beim Facharzt sowie das Recht auf eine Zweitmeinung vor einer Operation. Und für Krankenhäuser soll es mehr Pflegekräfte geben. All das dürfte die Krankenversicherungen, je nach Schätzung, am Ende zwischen 3,8 und 4,6 Milliarden Euro zusätzlich kosten – pro Jahr.

Mehr Eigenbeteiligung der Patienten – und vor allem: mehr Wettbewerb

Dann ist da noch die Alterung der Gesellschaft: Dieser Trend droht bald eine riesige Lücke in die Kassenfinanzen zu reißen. Bei konstantem Leistungsniveau und Beitragssatz sowie unveränderten Einkommen würde die Krankenversicherung 2030 rund 36 Milliarden Euro zu wenig einnehmen (siehe Kasten oben).

Doch wie macht man das Gesundheitswesen zukunftsfest?

Aus Sicht des BDA-Experten Hansen ist klar, dass sich „der Leistungskatalog auf eine Basissicherung konzentrieren muss“. Nötig sei auch mehr Eigenbeteiligung – „um das Kostenbewusstsein zu stärken“. Die beste Abhilfe allerdings: „mehr Wettbewerb, um das Gesundheitssystem effizienter und kostengünstiger zu machen“.

Nicht nur die Arbeitgeber setzen sich dafür ein, das fordern auch die Kassenverbände und die Monopolkommission der Regierung. „Mit einem intensiveren Wettbewerb können die Versicherten besser und preiswerter versorgt werden“, sagt Professor Achim Wambach, der Vorsitzende dieser Kommission.

Das Zauberwort dabei heißt „Vertragsfreiheit“. Bisher schließen die Kassen kollektive und einheitliche Verträge mit allen Krankenhäusern und der Mehrheit der Ärzte ab, egal, wie gut die Behandlung ist.

Kostenvorteile durch stärkere Spezialisierung

„Besser wäre es, wenn sie mit einzelnen Kliniken und Ärzten oder Arztgruppen selektive Verträge über Mengen, Preise und Qualitätsanforderungen vereinbaren dürften“, so Wambach. Hüft-OPs zum Beispiel nähmen dann auf lange Sicht nur noch darauf spezialisierte Kliniken vor: „Das ermöglicht günstigere Preise und senkt das Risiko teurer Nachbehandlungen.“

Bei Arzneimitteln könnten der Versandhandel und eine Aufhebung der Preisbindung für Apotheken zu mehr Konkurrenz führen. Insgesamt ließen sich enorme Effizienzreserven heben, betont Hansen: „Ohne Probleme“ seien durch mehr Wettbewerb Einsparungen von bis zu 11 Milliarden Euro drin.

Fraglich allerdings, ob sich die Politik bald zu den nötigen Reformen durchringen kann. Einfacher ist es ja, die Beiträge weiter zu erhöhen. Da das laut geltender Rechtslage allein die Arbeitnehmer treffen würde, wollen manche mal wieder die Betriebe stärker zur Finanzierung der Krankenkassen heranziehen.

Aus Sicht der Wirtschaft kommt das nicht infrage. Noch höhere Sozialbeiträge würden sich negativ auf Wachstum und Beschäftigung auswirken, warnen die Arbeitgeber. Und verweisen darauf, dass sie die teure Lohnfortzahlung im Krankheitsfall alleine schultern: Sie kostet die Betriebe über 50 Milliarden Euro im Jahr.

Diagnose: Ohne Abhilfe droht eine gewaltige Lücke

  • In der gesetzlichen Krankenversicherung droht schon bald eine enorme Finanzlücke. Das prognostiziert eine Simulation des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln.
  • Ursache ist der demografische Wandel: Der Anteil älterer Menschen an den Versicherten wächst. Und das belastet die Kassen gleich doppelt.
  • Zum einen steigen die Ausgaben. Ältere Menschen sind häufiger krank, oft sogar chronisch. Die Aufwendungen der Kassen je Versichertem liegen deshalb ab dem 50. Lebensjahr über dem Durchschnitt.
  • Zum anderen sinken, relativ gesehen, die Einnahmen (steigende Entgelte und Renten sind im Modell nicht berücksichtigt). Auf weniger Erwerbstätige kommen künftig mehr Rentner, die Durchschnittsrente ist aber nur halb so hoch wie der Durchschnittslohn. Also wird das beitragspflichtige Einkommen insgesamt geringer, die Lücke wächst.



Wichtige Begriffe in der Debatte um unser Gesundheitswesen

  • Beitragssatz. Er ist bei 14,6 Prozent vom Brutto festgeschrieben. Arbeitnehmer und Arbeitgeber bezahlen ihn je zur Hälfte. Erhöht werden kann er nur per Gesetz.
  • Zusatzbeitrag. Er wird ebenfalls einkommensabhängig berechnet, aber allein vom Arbeitnehmer bezahlt. Krankenkassen können ihn anheben, um finanzielle Engpässe auszugleichen. Der Zusatzbeitrag soll für mehr Wettbewerb unter den Kassen sorgen. Im Schnitt liegt er aktuell bei 1,1 Prozent.
  • Beitragsbemessungsgrenze. Sie liegt derzeit bei 4.350 Euro. Bis zu diesem Betrag wird für jeden Euro Entgelt Krankenkassenbeitrag fällig, darüber nicht mehr.
  • Gesundheitsfonds. Die Kassen leiten die Beiträge von Betrieben und Beschäftigten an den Fonds weiter. Der sammelt auch den Zuschuss vom Fiskus ein sowie Geld von Arbeitsagentur und Rentenversicherung. Dann stattet der Fonds die Kassen mit Geld für die Leistungen aus.
  • Risikostrukturausgleich. Der Fonds verteilt die Mittel nicht einfach nach der Zahl der Versicherten, sondern berücksichtigt auch deren Alter, Geschlecht und Gesundheitszustand – die „Risikostruktur“. Für Menschen mit schweren oder chronischen Krankheiten gibt es besonders viel Geld. Nachteil: Manche Kassen versuchen, Diagnosen von Ärzten zu beeinflussen, um möglichst hohe Zuweisungen zu erhalten. Deshalb wird das Verfahren nun überprüft.