Berlin/Istanbul. Es ist nur wenige Jahre her, da bejubelten Experten das Wirtschaftswunder Türkei: „Boom am Bosporus!“ Nach dem Amtsantritt von Präsident Recep Tayyip Erdogan im Jahr 2002 hatte das Wachstum in diesem Land Traumwerte erreicht, das Pro-Kopf-Einkommen stieg bis heute inflationsbereinigt um fast 60 Prozent. Ausländische Unternehmen investierten eifrig.
Jetzt befindet sich die Türkei im Ausnahmezustand. Entlassungen, Massenverhaftungen, Drohungen gegen die EU: Erdogans Kehrtwende in Sachen Demokratie, nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli noch beschleunigt, droht das Wirtschaftswunder zu zerstören. Experten fürchten schlimme Folgen für die türkische Wirtschaft.
„Die Investitionen werden wohl drastisch zurückgehen“, prophezeit Anton Börner, Präsident des Außenhandelsverbands BGA in Berlin, im Gespräch mit AKTIV. Das unruhige politische Klima verunsichere die Kapitalgeber, die Risiken seien nicht kalkulierbar. Zwar müsse man abwarten, Prognosen seien schwer zu treffen. Mit einer Entspannung der Lage rechne er aber nur, wenn aus Istanbul sehr bald klare Signale in Richtung Demokratie kämen. „Sonst sehe ich für die zweite Jahreshälfte und 2017 schwarz.“ Der Türkei drohe ein „volkswirtschaftliches Desaster“. Was die Spirale noch verstärke: „Mit seiner Politik verunsichert und vertreibt Erdogan jetzt auch Fach- und Nachwuchskräfte.“
Im Tourismus ist die Krise längst angekommen: Die Zahl der Urlauber lag schon im Juni nach mehreren Terroranschlägen um rund 40 Prozent niedriger als ein Jahr zuvor. „Die Einnahmen sind enorm wichtig für das Land“, erläutert Börner die Bedeutung dieser Branche. „Sie sind die Quelle von Devisen, schaffen unmittelbar Jobs und fließen in die Infrastruktur.“
Auch deutschen Firmen drohen Einbußen. „Wir müssen mit deutlichen Einbrüchen bei den Exporten rechnen“, sagt Börner. Die Bundesrepublik pflegt seit Jahrzehnten enge Beziehungen zur Türkei. Sie ist ihr größter Handelspartner und der wichtigste ausländische Investor. Das Handelsvolumen betrug im vergangenen Jahr beachtliche 37 Milliarden Euro.
Deutschland setzte in der Türkei 2015 Produkte im Wert von 22,4 Milliarden Euro ab – 16 Prozent mehr als noch 2014. Damit stand die Türkei auf Platz 14 unserer wichtigsten Exportmärkte – vor Ländern wie Russland und Japan. Im Gegenzug wurden türkische Produkte im Wert von 14,5 Milliarden Euro importiert (8 Prozent mehr als 2014).
Gut ein Viertel davon sind Autos, Autoteile, Maschinen und Elektronik – aber noch etwas bedeutsamer sind Textilien und Bekleidung, im Wert von über 4 Milliarden Euro jährlich. Ingeborg Neumann, Präsidentin des Gesamtverbands der Textil- und Modeindustrie in Berlin: „Weitere negative Entwicklungen in der Türkei wären Gift für die wirtschaftlichen Beziehungen.“
Laut der Deutsch-Türkischen Industrie- und Handelskammer in Istanbul gibt es landesweit 6.650 Firmen mit deutscher Kapitalbeteiligung. 2013 waren es noch 5.000. Bosch beschäftigt zum Beispiel mehr als 16.000 Mitarbeiter, Siemens 3.000. Daimler und MAN bauen Lkws und Busse, BASF vermarktet Lacke, die Metro-Gruppe ist stark im Einzelhandel präsent.
Firmen fürchten Einfluss auf den Warenverkehr
„Vor allem Mittelständler halten sich jetzt zurück“, berichtet Handelskammer-Chef Jan Nöther, „die Verunsicherung ist spürbar.“ Viele wüssten nicht mehr, mit wem sie in der Türkei noch Geschäfte abschließen dürfen und fürchteten Einflüsse auf den Warenverkehr. Immerhin: Noch laufe das Tagesgeschäft ohne Einschränkungen, man erlebe keine Eingriffe in die Abwicklung von Investitionen. Trotz Unsicherheit – Nöther bleibt optimistisch: „Die deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen stehen auf festem Fundament. Das lässt sich so leicht nicht erschüttern.“