Bei der Begrüßung baumelt Marie Mosel eine Baumwolltasche über der Schulter. „Ich hab da mal was mitgebracht“, sagt die 21-Jährige fröhlich. Sie nimmt den Beutel ab und wühlt darin herum. Zum Vorschein kommt eine blaue, mit unendlich vielen Schlaufen versehene Strickjacke. „Die gehört zu meinen Lieblingsstücken“, sagt Mosel. Und streift das Teil mal schnell über.

Am Tag des aktiv-Besuchs auf dem Campus der Uni Osnabrück ist es noch recht frisch. Ihre Jacke versteht Mosel aber auch als modisches Statement. „Ich mag ausgefallene Kleidung. Und ich stehe dazu. Mode und passende Accessoires, das ist genau meine Welt“, sagt die gelernte Mode- und Textilschneiderin, die 2024 beim NEXT-Nachwuchspreis der Textilakademie NRW in Mönchengladbach auf dem ersten Platz gelandet ist.

„Ich mag ausgefallene Kleidung. Und ich stehe dazu. Mode und passende Accessoires, das ist genau meine Welt“

Marie Mosel

Klingt fast nach Klischee: Junges Mädchen, sportlich, interessiert sich für Klamotten, wollte wahrscheinlich immer schon Mode designen … Mosel lacht: „Ich hatte tatsächlich ‚Top-Model‘-Bücher zu Hause, in denen ich ‚designt‘ habe. Aber mich interessiert eher das Modemanagement.“ Deshalb absolviert sie nach der Ausbildung zur Mode- und Textilschneiderin seit vergangenem Herbst ein Wirtschaftsstudium in Osnabrück .

Bis dahin war es ein weiter Weg. In Mülheim an der Ruhr geboren, bekam Marie mit zwölf Jahren ihre erste Nähmaschine geschenkt. Seither fasziniert sie die Entstehung von Mode. „Fürs Design fand ich mich nicht kreativ genug“, sagt sie selbstkritisch. Spannend fand sie dagegen schon immer die vielen Fertigungsschritte, den Vertrieb und die Produktion. Im Auslandsjahr während der zehnten Klasse in Kanada näht sie täglich im Unterricht. Das festigt den Berufswunsch. Doch zurück in Deutschland steht erst mal das Abi an.

Nach einigen Absagen erhielt sie endlich eine Chance

Das macht Mosel im Coronajahr 2021 mit 17 Jahren – und viel Homeschooling. „Ich saß zu Hause fest, konnte nicht zum Training, mich nicht mit Freunden treffen“, erinnert sich die begeisterte Feldhockey-Spielerin. Ihr Ausweg damals: wieder das Nähen. Erst Masken, dann Frühchen-Bodys. Sie setzt alles auf eine Karte – und bewirbt sich schon im Oktober 2020 für ein Modemanagement-Studium in Amsterdam.

„Das Vorstellungsgespräch war online und wir mussten innerhalb von zwei Stunden eine Ausarbeitung abgeben“, erinnert sich Mosel. Sie habe sich etwas zum Thema Nachhaltigkeit einfallen lassen. Aber im Frühjahr 2021 kommt eine Absage. Was nun? „Einen Plan B hatte ich erst nicht und das Bewerbungsjahr war schon weit fortgeschritten.“ Den Traum also aufgeben? Ganz bestimmt nicht!

Also schreibt sie Bewerbungen. Ihr Plan: eine Ausbildung machen und diese als Sprungbrett für ein Studium nutzen. Mosel hat Erfolg – und Glück: Ein namhaftes Modeunternehmen aus Halle (Westfalen) nimmt sie an. Im August 2021 beginnt sie dort eine Lehre zur Textil- und Modeschneiderin und zieht dafür zu ihren Großeltern nach Georgsmarienhütte: „Das war am Anfang hart.“ Sie pendelt regelmäßig ins 35 Kilometer entfernte Halle. „Ich bin um fünf Uhr aufgestanden, um pünktlich um sieben Uhr im Nähsaal zu sein. Meine Ausbilderin hat höchste Qualität verlangt.“ Mosel näht tagelang an Patten, aufgesetzten Taschen für Blazer, bis sie perfekt aussehen.

Sie begleitete Techniker beim Fabrikbesuch

Mit demselben Geschick geht sie an ihr Prüfungsstück: einen Blazer. Unter anderem für dessen Bearbeitung erhält sie im November 2024 den NEXT-Preis, der mit 2.000 Euro Preisgeld dotiert ist.

Was sie zusätzlich beeindruckt, sind ein einmonatiges Praktikum in Istanbul und mehrere Ordermessen, die sie besuchen darf. „In Istanbul konnte ich mit Technikern Bekleidungsfabriken besuchen und so den Weg der Kleidung durch die Fertigungsstufen verfolgen.“ Auf den Messen bekam sie Kontakt zu Kunden und beobachtete Verkaufsgespräche. Mit diesen Erfahrungen – und einem Ausbildungsabschluss mit Bestnote – verlässt sie Ende Januar 2024 Halle in Richtung Berlin. Dort schaut sie sich in einem Designer-Brautmoden-Atelier als Praktikantin die Fertigung von maßgeschneiderten Einzelstücken an: „Da ging es um Stoffbestellung, Lieferantenkontakt und Qualitätskontrolle. Auch an Schleiern habe ich mitgenäht.“ Das habe ihr gezeigt, dass sie im Modemanagement richtig ist. „Deshalb steht für mich jetzt erst mal das Studium an“, sagt Mosel.

„In Istanbul konnte ich mit Technikern Bekleidungsfabriken besuchen und so den Weg der Kleidung durch die Fertigungsstufen verfolgen“

Marie Mosel

Der Fashion- und Lifestyle-Branche bleibt die Wirtschaftsstudentin auch während des Semesters in Osnabrück treu. In ihrem Keller stehen zwei Nähmaschinen, die sie günstig von ihrem Ausbildungsbetrieb erstanden hat. Dort näht sie in ihrer Freizeit. Das Studium finanziert die überzeugte Brillenträgerin über einen Aushilfsjob bei einem Optiker.

Um ihre Ausbildung und Karriere voranzubringen, würde sie gern ins Ausland: „Nächstes Jahr geht es vielleicht für einige Wochen an eine Modeschule in London oder Paris.“ Das Geld dafür hat die junge Frau fast zusammen – dem NEXT-Preis sei Dank.

Anja van Marwick-Ebner
aktiv-Redakteurin

Anja van Marwick-Ebner ist die aktiv-Expertin für die deutsche Textil- und Bekleidungsindustrie. Sie berichtet vor allem aus deren Betrieben sowie über Wirtschafts- und Verbraucherthemen. Nach der Ausbildung zur Steuerfachgehilfin studierte sie VWL und volontierte unter anderem bei der „Deutschen Handwerks Zeitung“. Den Weg von ihrem Wohnort Leverkusen zur aktiv-Redaktion in Köln reitet sie am liebsten auf ihrem Steckenpferd: einem E-Bike.

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