Köln/Bochum. Es war einer dieser herben Rückschläge, die das Revier in den letzten Jahrzehnten erschütterten: Opel macht seine Fabrik in Bochum dicht. Zehn Jahre lang haben Belegschaft, Betriebsrat, Gewerkschaften und die Menschen der Region gegen die Schließung gekämpft. Es nutzt nichts: Am 5. Dezember 2014 bleiben die Bänder im einst so stolzen Autowerk für immer stehen.
Dabei war die Marke mit dem Blitz lange die große Hoffnung im Ruhrgebiet. Ende der 50er Jahre ist der Kohle-Boom der Nachkriegszeit vorbei, das große Zechensterben beginnt. Da stampft Opel in Bochum ein neues Werk aus dem Boden – und 1962 rollen die ersten Kleinwagen des Typs Kadett vom Band. Zu besten Zeiten bietet der Autobauer mehr als 20.000 gut bezahlte Jobs.
Früheres Opel-Gelände in Bochum: IT-Campus statt Auto-Fabrik
Und heute? DHL hat auf dem früheren Opel-Gelände ein gigantisches Paketzentrum errichtet. Und die Bosch-Tochter Escrypt will dort ihre neue Unternehmenszentrale für IT-Sicherheit hochziehen. Drumherum soll ein Campus entstehen, auf dem sich Entwickler mit den modernsten Internet-Technologien befassen. Bis zu 2.000 neue Jobs durch Hightech. Immerhin.
Bochum zeigt beispielhaft, wie das Revier um seine Zukunft kämpft. Es steckt noch immer mittendrin im sogenannten Strukturwandel. Weil die Politik jahrzehntelang an der nicht mehr wettbewerbsfähigen Revier-Kohle festhielt – und sie mit Milliarden subventionierte. Kurz vor Weihnachten ist trotzdem Schicht im Schacht: Am 21. Dezember schließt die letzte Zeche, das Bottroper Bergwerk Prosper-Haniel.
Der verschleppte Strukturwandel hat für die Kommunen drastische Folgen
Weil der Strukturwandel von der Schwerindustrie hin zu Wachstumsbranchen verschleppt wurde, nehmen die Kommunen im Ruhrgebiet durchschnittlich pro Kopf nur 692 Euro ein. Bundesweit sind es 972 Euro (in Großstädten ab 100.000 Einwohner).
„Die Städte im Revier können sich viele Investitionen schlichweg nicht leisten und fallen weiter zurück“, mahnt Klaus-Heiner Röhl. Der Wissenschaftler gehört zu den Autoren einer neuen Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), die den Zustand des Reviers schonungslos aufdeckt. Röhl: „Die Mischung aus maroder Infrastruktur, Problemen in der Bildung und fehlendem Geld ist fatal.“ In der Region sei trotz zahlreicher wirtschaftspolitischer Programme die Arbeitslosigkeit doppelt so hoch wie im Bundesdurchschnitt.
Zentrale Lage und eine starke Hochschullandschaft – damit kann das Revier auftrumpfen
Zugleich macht die Studie den 5,1 Millionen Einwohnern von Deutschlands größtem Ballungsraum aber auch Mut. Es stecke im Ruhrgebiet durchaus Potenzial, schreiben die Wissenschaftler. Die Region könne in manchen Punkten auftrumpfen – etwa mit seiner zentralen Lage im Herzen Europas und einer starken Hochschullandschaft. Das Ruhrgebiet müsse diese Chancen nutzen, um wirtschaftlich mit dem Rest der Republik gleichzuziehen.
Wie groß der Handlungsbedarf ist, zeigen Wirtschaftsdaten: Zwischen Ruhr und Emscher beträgt das jährliche Bruttoinlandsprodukt je Einwohner (Wert aller produzierten Güter und Dienstleistungen) 32.500 Euro, halb so viel wie im Großraum München. Solche Tristesse veranlasst viele Bürger, die Region zu verlassen: Die Einwohnerzahl ist zwischen 2000 und 2015 um fast 5 Prozent gefallen, während andere Ballungszentren einen Zustrom verzeichnen.
In vier größeren Ruhrgebietsstädten lag die Arbeitslosenquote im Oktober 2018 über 10 Prozent, am höchsten war sie mit 12,5 Prozent in Gelsenkirchen. Im Bundesschnitt sind es 4,9 Prozent. Zwar nahm auch im Revier der Anteil der Erwerbslosen ab, doch in anderen Regionen mit überdurchschnittlich vielen Menschen ohne Job ging das schneller.
Das liegt auch daran, dass die Zahl der Betriebe gesunken ist. Im Revier steuern Industrie-Unternehmen nur noch knapp 17 Prozent zur Wirtschaftsleistung bei, in ganz Deutschland sind es 23 Prozent.

Die Region braucht mehr Leuchttürme wie den Pumpenhersteller Wilo in Dortmund. Das Unternehmen baut an seinem Stammsitz eine intelligente Fabrik, investiert eine viertel Milliarde Euro. Der „Wilo Campus Dortmund“ ist derzeit Deutschlands größtes industrielles Bauvorhaben. Für den Standort sprachen unter anderem die zentrale Lage, das dichte Verkehrsnetz – und ausreichend Fachkräfte.
Im Ruhrgebiet gibt es 22 Hochschulen – das ist einzigartig in Deutschlands Bildungslandschaft
Die sind im Pott, verglichen mit den Hotspots der industriellen Zentren im Süden, noch recht gut zu finden. Gleichwohl kann sich die Suche mitunter schwierig gestalten: In dem Ballungsraum haben nur 13 Prozent der Arbeitskräfte einen Meister- oder Hochschulabschluss. Betrachtet man den Durchschnitt aller Großstädte Deutschlands, so liegt der Anteil deutlich höher, bei 21 Prozent.
Das verblüfft. Schließlich verfügt die Region über zahlreiche Hochschulen. 1962 wurde in Bochum der Grundstein für die Ruhr-Universität gelegt; heute gibt es im Revier 22 Hochschulen sowie mehr als 60 außeruniversitäre Forschungseinrichtungen. Problem: Viele der gut Qualifizierten ziehen nach dem Studium weg.
Wissenschaftler fordern engere Verzahnung von Wissenschaft und Wirtschaft
Um das Ruhrgebiet attraktiver zu machen, fordert IW-Forscher Röhl den Ausbau der Zusammenarbeit von Hochschulen und regionaler Wirtschaft; außerdem plädiert er für mehr Ausgründungen von Start-ups aus der Forschung. Die digitale Infrastruktur dafür ist da: Inzwischen haben 85 Prozent der Haushalte im Ruhrgebiet einen Breitbandanschluss, deutschlandweit verfügen nur 77 Prozent über schnelles Internet.
Aus eigener Kraft allein kann die Region die Probleme allerdings nicht bewältigen – zu diesem Schluss kommt jedenfalls die Studie. Entscheidend für die Zukunft sei, dass Bund und Land dort gezielt investieren.
Es müssen mehr Gewerbeflächen her
Röhl: „Wir brauchen mehr Geld für die marode Infrastruktur und eine Neuausrichtung der Regionalpolitik zugunsten der schwächeren Regionen in Westdeutschland.“ Zudem müsste den Ruhrgebietsstädten ein Teil ihrer Altschulden erlassen werden, damit sie wieder investieren können. Doch auch die Kommunen selbst müssten umdenken und vor allem mehr Gewerbeflächen schaffen.
Der Anfang für den Aufbau West ist gemacht: Die Landesregierung hat vor Kurzem eine Ruhr-Konferenz gestartet – einen Gedankenaustausch aller gesellschaftlichen Gruppen. Sie soll der Region neue Impulse geben.
Wohin steuert der Pott: Weitere interessante Infos über den Strukturwandel im Ruhrgebiet lesen Sie auf iwd.de.
Das Revier in der Rückblende
1909

Kanonenwerkstatt von Krupp. Im Ersten und Zweiten Weltkrieg wird das Ruhrgebiet zur Rüstungsschmiede Deutschlands.
1945

Trümmerhaufen: Am Ende des Krieges liegt die Industrie in Schutt und Asche – die Produktion kommt zum Erliegen.
1959

Kohlekrise: IG-Bergbau-Chef Heinrich Gutermuth (links) verhandelt mit Wirtschaftsminister Ludwig Erhard über Hilfen.
1962

Ruhr-Universität Bochum: Am 2. Juli legt CDU-Ministerpräsident Franz Meyers den Grundstein zur ersten Uni des Reviers.
1968

Opel-Legende GT: Bis zum Produktionsende 1973 werden in Bochum 103 000 Stück gefertigt, 70 000 für US-Kunden.
2001

Touristen-Magnet: Die Zeche Zollverein in Essen wird von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt.
2018

Schicht im Schacht: Ende des Jahres schließt in Bottrop die letzte Zeche des Reviers – das Ende einer Ära.