Amsterdam. Diar hat Spaß. Mit zwei Jungs hat sich der Elfjährige auf eine Couch gefläzt, die drei wischen fröhlich über die Displays ihrer Tablet-PCs. Sie feixen. Es sieht aus, als hätten sich da drei Kumpels zum Daddeln verabredet.
Stimmt aber nicht. Denn das hier ist Schule! Genauer: die Grundschule „De Ontplooiing“ im Norden von Amsterdam, Niederlande. Eine Schule, in der es keine Tafeln mehr gibt und keine Schulbücher. Keine Ranzen, keine Klassenlehrer, nicht mal mehr Klassen. Dafür: iPads für jedes Kind!
„Wir machen übrigens gerade Mathe“, sagt Diar. „Ist cool!“ Dann beißt er in seine Birne, schmatzt ausgiebig und sagt: „Endlich macht mir Schule Spaß.“
Deutschland hinkt der Entwicklung noch meilenweit hinterher
Diars Schule ist eine von zwei Dutzend „Steve-Jobs-Schulen“ in den Niederlanden – benannt nach dem Apple-Gründer. Ende des Jahres sollen es schon 40 sein. Ihr Slogan: „Unterricht für ein neues Zeitalter“.
Rund 4.000 Kinder zwischen vier und zwölf lernen hier vorwiegend mit Apps. Die vertiefen, was zuvor in „Workshops“ erarbeitet wurde. Initiator ist der Internet-Guru Maurice de Hond. Er sagt: „Was wir hier erleben, ist eine Bildungsrevolution und nicht mehr aufzuhalten!“
Digitales Lernen – bei unseren niederländischen Nachbarn ist das demnach schon vielerorts gelebter Schulalltag. In Deutschlands Schulen dagegen herrscht noch immer: die Kreidezeit. „Wir hinken den Niederlanden und anderen Ländern beim Einsatz digitaler Medien meilenweit hinterher“, bemängelt Professor Andreas Breiter, wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Informationsmanagement an der Uni Bremen.
Zwar gebe es auch hierzulande ein paar Leuchttürme, Schulen, die „fantastischen digitalen Unterricht“ machten. „Aber das geht fast immer zurück auf den persönlichen Einsatz einzelner Lehrer“, so Breiter. Ein echtes Konzept, flächendeckende Ausstattung mit moderner Technik, sei nicht in Sicht. Auch bei der digitalen Lehrerbildung gebe es Defizite. „Es wird sogar immer noch diskutiert, ob Computer im Unterricht überhaupt sinnvoll sind“, ärgert sich Breiter.
Wenn Maurice de Hond, der holländische Bildungsrevoluzzer, das hört, dann lehnt er sich in seinem Amsterdamer Büro zurück und erzählt von seinem Nesthäkchen. Vor zwei Jahren wollte de Hond, 66, fünffacher Vater, seine jüngste Tochter Daphne an einer ganz normalen Grundschule anmelden. „An der Schule, die eines meiner älteren Kinder vor 30 Jahren besucht hat.“ Zu seinem Entsetzen stellte er fest: „Da sah alles aus wie damals!“
Vorne die Tafel, hinten die Schüler, dazwischen der Lehrer, dozierend. „Ich kam mir vor wie in einem Museum aus der Vergangenheit. Aber die Welt da draußen war doch eine völlig andere geworden.“
De Hond grübelte, entwickelte sein Konzept, fand Mitstreiter – und gründete vor einem guten Jahr die erste Steve-Jobs-Schule. Seither stiefeln Politiker und Bildungsexperten aus aller Welt in Kompaniestärke staunend durch die Flure.
Und schauen auch Marina Donker, Lehrerin in „De Ontplooiing“, bei der Arbeit über die Schulter. Neun Jahre unterrichtete sie zuvor an einer normalen Schule. Und will nie mehr zurück: „Weil die Unterschiede gigantisch sind.“
Die Stundenpläne an iPad-Schulen folgen individuellen Interessen und Fähigkeiten der Kinder. Alle sechs Wochen werden sie von Eltern und Lehrern für jedes Kind festgelegt. Die Anfangszeiten in der Schule sind gleitend, selbst die Ferien teilweise flexibel. Ermöglicht wird das durch: Tablets. „Sie stimulieren Kinder zum selbstständigen Lernen, sind ein perfektes Werkzeug“, sagt Donker.
Wenn man welche hat. Einer aktuellen internationalen Studie zufolge müssen sich an deutschen Schulen im Durchschnitt noch immer elf Kinder einen Rechner teilen. Folge: „Etwa 30 Prozent unserer Achtklässler haben so geringe Computerkenntnisse, dass wir sie auf dem Weg in die Informationsgesellschaft zu verlieren drohen“, mahnt Birgit Eickelmann, Professorin für Schulforschung an der Uni Paderborn.
Natürlich: Auch in den Niederlanden ist das nahezu radikale Konzept der iPad-Schulen nicht völlig unumstritten. Kritikpunkt: Es werde bei den Kindern zu viel Selbstständigkeit vorausgesetzt. Visionär de Hond ficht das nicht an: „Kinder sind neugierig, sie wollen lernen. Man muss sie nur begeistern.“
Wie Diar, den Jungen mit der Mathe-App. An zwei anderen Schulen kam der Junge mit der Nerd-Brille nicht zurecht, galt als verhaltensauffällig. Jetzt laufe alles reibungslos, berichten die Eltern.
Was denn los war mit ihm? „Ich weiß auch nicht“, sagt der Knirps in erstaunlich gutem Englisch. „Ich hatte immer …“, er stockt, sucht nach der richtigen Vokabel, zückt sein Tablet, googelt kurz.
Das Wort, was er suchte, ist: „Langeweile.“