Berlin. Er gilt als einer der besten Kenner ostdeutscher Mentalitäten: Professor Steffen Mau (51), Soziologe an der Humboldt-Universität in Berlin. In der DDR hatte der gebürtige Rostocker eine Lehre als Elektronikfacharbeiter gemacht. aktiv sprach mit ihm über den Stand der Dinge.

Nach dem Ende der ineffizienten sozialistischen Planwirtschaft mussten sich Millionen Menschen ganz neu orientieren. Haben die älteren Ostdeutschen inzwischen ihren Frieden mit der Sozialen Marktwirtschaft geschlossen?

Überwiegend ja, schon wegen des enormen Wohlstandsschubs. Rund 80 Prozent der Menschen ziehen heute für sich persönlich positive Vereinigungsbilanzen. Wobei die „Vollversorgungsgesellschaft“ der DDR nachwirkt: Ostdeutsche sind nach wie vor stärker etatistisch, also staatsorientierter – und weniger liberal als Westdeutsche.

Früher hieß es gerne, DDR-Bürger seien „sozialer“. Gilt das noch?

Damals lebte man in einem umzäunten Staat, die sozialen Milieus waren klein und sehr homogen: „sozialorientierter“ kann man da also einerseits durchaus stehen lassen. Andererseits fehlte die Erfahrung mit anderen Kulturen, die sogenannte Fremdheitsfähigkeit. Solidarität mit Fremden ist im Osten tendenziell geringer als im Westen, die Bereitschaft, anderen zu helfen, die man nicht kennt, ist bis heute weniger ausgeprägt. Es gibt einen ausgeprägteren Hang zur Besitzstandswahrung – sicher auch als Folge der für viele brutalen wirtschaftlichen Transformation nach der Wende.

Jahrgang 1990, jetzt 30 Jahre alt: Gibt es bei dieser Altersgruppe und den Jüngeren eigentlich noch „Ossis“ und „Wessis“?

Es ist natürlich nicht so, dass man junge Leute da sofort eindeutig zuordnen könnte. Es gibt nach wie vor eine besondere ostdeutsche Identität, aber mit Abstufungen. Bei den unter 30-Jährigen versteht sich immerhin ein Fünftel stärker als Ostdeutsche denn als Deutsche, bei den Westdeutschen spielt der Bezug zu Westdeutschland im Grunde keine Rolle. Denken Sie nur an die „Ostdeutschland“-Rufe im Fußballstadion. Ostdeutschland ist nach wie vor ein spezifischer Sozial- und Erfahrungsraum.

Das muss ja kein Nachteil sein.

Genau. Ostdeutsche Identität und starke Heimatverbundenheit können auch eine positive Ressource sein.

„Heimat“ heißt dann aber leider oft zugleich „abgehängte Gegend“. Wie schlimm ist das wirklich?

Ausdünnung und Überalterung der Bevölkerung in einzelnen Gegenden – so etwas gibt es überall in Europa und auch in Westdeutschland. Aber in Ostdeutschland ist das teilweise extrem, das liegt an der massiven Abwanderung nach der Wende.

„Ostdeutsche sind weniger liberal als Westdeutsche.“ Professor Steffen Mau, Humboldt-Universität Berlin

Diese Abwanderung hat übrigens auch dadurch soziale Probleme mit sich gebracht, dass die Kinder und die Enkel oft sehr weit weg wohnen, ganz anders als früher in der DDR. Immerhin: Dieser Trend ist gestoppt, schon seit 2017 gibt es netto eine Zuwanderung in den Osten.

Wenn Sie einen Wunsch für die nächsten 30 Jahre frei hätten: Was sollte man tun, um die Einheit weiter voranzubringen?

Einen hoffentlich realistischen Wunsch: Wir sollten massiv in die ostdeutschen Hochschulen und Fachhochschulen investieren – und außerdem dafür sorgen, dass sie viel stärker als bisher mit der Wirtschaft zusammenarbeiten. Und ein Wunschtraum: Man müsste Zentralen von Großunternehmen im Osten ansiedeln, mit entsprechend positiven Folgen für die regionale Dynamik. Auch so gesehen ist die geplante Tesla-Fabrik in Brandenburg außergewöhnlich.