Deutschland hat über Jahrzehnte seine Streitkräfte vernachlässigt. Um Russland abzuschrecken und europäischen Partnern glaubwürdig Beistand zusichern zu können, muss die Bundeswehr nun schnell besser ausgestattet werden – eine Herkulesaufgabe. Was ist nun zu tun? Und welche Rolle spielt dabei die deutsche Verteidigungsindustrie? Antworten darauf gibt es hier:
Was braucht die Bundeswehr?
Die deutschen Streitkräfte haben in fast allen Bereichen Nachholbedarf. So fehlt es neben klassischem Gerät wie Panzern und Flugzeugen vor allem an Munition. Wollen Deutschland und Europa unabhängiger von den USA werden, geht es zudem um das Erlangen militärischer Fähigkeiten, die im Nato-Verbund bislang die USA gestellt haben. Dazu gehören unter anderem die Satellitenaufklärung, Raketen mit großer Reichweite und Luftverteidigung. Zusätzlich will die Bundeswehr nun bewaffnete Drohnen in die Truppe einführen, lange Zeit ein politisches Tabuthema. Angesichts der Bedrohungslage drängt die Zeit – bei allen Rüstungsvorhaben. Experten und Geheimdienste warnen, dass Russland bereits 2029 zu einem größeren Krieg und einem Angriff auf Nato-Territorium fähig sein könnte.
Was und wie schnell kann die deutsche Industrie liefern?
In drei Jahrzehnten der Abrüstung sind die Kapazitäten der deutschen Rüstungsindustrie stark heruntergefahren worden. Wenn die Verteidigungsanstrengungen nun verdoppelt werden sollen, geht das nicht aus dem Stand. Wichtig für einen kontinuierlichen Aufwuchs sind verlässliche Perspektiven. So fordert Hans Christoph Atzpodien, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV), „klare Ansagen“ für seine Branche. „Die Industrie kann das allermeiste liefern, wenn ihr klar gesagt wird, was jetzt wovon in welcher Stückzahl und welcher Zeit benötigt wird.“ Die Produktion von Munition wird bereits hochgefahren. Bei Drohnen könnten Produktionskapazitäten wohl relativ schnell aufgebaut werden. Bestehende Fähigkeitslücken Europas, für die eigene Systeme noch zu entwickeln sind, wird man innerhalb weniger Jahre nicht schließen können.
Wie wichtig sind Waffen aus den USA?
In zentralen Bereichen sind europäische Streitkräfte auf US-Waffen angewiesen. Laut dem schwedischen Friedensforschungsinstitut Sipri betrug der US-Anteil bei Waffenimporten nach Deutschland in den vergangenen fünf Jahren 70 Prozent. Zum schweren Transporthubschrauber CH47 oder dem F35-Kampfjet der fünften Generation etwa gibt es außerhalb der USA keine gleichwertigen Alternativen. Beide Systeme wurden für viele Milliarden Euro für die Bundeswehr bestellt. Deutschland und Frankreich arbeiten zwar schon gemeinsam am Future Combat Air System (FCAS). Der Kampfjet der sechsten Generation soll im Verbund mit Drohnen kämpfen können. Für die Luftwaffe fliegen dürfte er allerdings erst ab 2040. Um Russland abzuschrecken, werden in Deutschland ab 2026 amerikanische Marschflugkörper mit hoher Reichweite, Flugabwehrraken und Überschallwaffen stationiert. Sie sollen so lange bleiben, bis Europa eigene Waffensysteme hat.
Werden Aufträge effizient vergeben?
Das Beschaffungswesen der Bundeswehr galt über Jahre als träge und teuer. Mangelverwaltung und Bürokratie dominierten. Statt auf dem Markt verfügbare Produkte wurden gerne eigene teure „Goldrandlösungen“ bestellt. Die Umsetzung weitreichender Beschaffungs- und Rüstungsprojekte war im Zyklus einer Legislaturperiode von nur vier Jahren häufig nicht möglich. Nach ersten Verbesserungen im Zuge der Zeitenwende soll sich nun noch mehr tun. Die angehende Regierung hat sich darauf verständigt, einen mehrjährigen Investitionsplan für die Verteidigungsfähigkeit zu etablieren, der eine langfristige finanzielle Planungssicherheit gewährleistet. Zudem soll ein Gesetz die Planung und Beschaffung von Waffensystemen beschleunigen.
Muss Europas Rolle größer werden?
Viele verschiedene Panzer und Kampfjets: Während die USA sich oft auf ein Minimum an Waffensystemen beschränken, gibt es in Europa einen Wildwuchs. Stattdessen könnte man gemeinsame Typen entwickeln und diese dann in großen Stückzahlen günstiger produzieren. Das klingt sinnvoll. Kurzfristig sei mehr Kooperation in der Entwicklung allerdings keine Lösung, warnt BDSV-Chef Atzpodien. „Für die bis 2029 zu realisierenden Beschaffungsziele nützt dies wenig.“ Es komme aktuell eher darauf an, die Nachfrage nach verfügbaren Produkten europäisch zu bündeln, um eine klare Perspektive für den Kapazitätsaufbau aufseiten der Industrie zu schaffen. „Dies ist jetzt absolut vordringlich, damit die Hersteller entsprechend planen und disponieren können.“
Lassen sich Autofabriken nutzen?
„Das ist absolut möglich“, sagt Atzpodien. „Und zwar vor allem dort, wo für Rüstungsprodukte sehr schnell höhere Serieneffekte realisiert werden müssen.“ Die Automobil-Industrie habe Erfahrung mit hoher Taktung. „Dort, wo dies im Bereich Rüstung nunmehr angesagt ist, können Kompetenzen und gegebenenfalls auch Produktionsanlagen gut genutzt werden.“ Beispielhaft wird derzeit über das VW-Werk in Osnabrück spekuliert. Dessen Zukunft als Automobil-Standort ist ungewiss. Das Rüstungsunternehmen Rheinmetall erwägt offenbar eine Übernahme. Laut Konzern-Chef Armin Papperger ist es „gut geeignet“ für die Produktion von Rüstungsgütern.
Findet die Branche genug Mitarbeiter?
Die Rüstungsindustrie ist aktuell angesagt. Branchen-Schwergewicht Rheinmetall etwa berichtet von weltweit 250.000 Bewerbungen im vergangenen Jahr, allein 175.000 in Deutschland. Sehr willkommen, so Atzpodien, sei der Zustrom von Fachkräften aus anderen Wirtschaftsbereichen, etwa der Auto-Branche. Ein Problem allerdings: Mitarbeiter, die an geheimschutzrelevanten Produkten arbeiten, bräuchten eine Genehmigung vom Wirtschaftsministerium. „Diese Verfahren stellen heute ein Bottleneck dar, da sie vielfach zu viel Zeit benötigen. Hier ist Beschleunigung das absolute Gebot der Stunde, um die Rekrutierung qualifizierten Personals zu ermöglichen.
Rüstungsstandort Deutschland
- Laut dem Wirtschaftsministerium erwirtschaftete die Verteidigungsindustrie 2022 einen Umsatz in Höhe von 31 Milliarden Euro. Rund 105.000 Menschen sind in der Branche beschäftigt.
- Zu den wichtigsten Firmen gehören Konzerne wie Airbus, die etwa den Kampfjet Eurofighter, Hubschrauber oder Transportmaschinen herstellen. Rheinmetall produziert vor allem Panzer und Landfahrzeuge sowie Munition.
- Gerade bei neueren Systemen wie Drohnen gehören auch kleinere Unternehmen zu den wichtigen Herstellern. Bekannte Firmen sind hier zum Beispiel Helsing und Quantum Systems.
- Auch in Niedersachsen ist die Rüstungsindustrie auf Expansionskurs. Die Landesregierung begrüßt die Entwicklungen. „Die Rüstung bietet eine riesige wirtschaftliche Chance für Niedersachsen“, sagte Niedersachsens designierter Ministerpräsident Olaf Lies (SPD) in der „Frankfurter Allgemeinen“. Zumal es bei vielen Produkten um eine Wertschöpfung gehe, „die weit über die Rüstungsindustrie hinausgeht“. Auch viele der Hochschulen im Land seien offen für den Rüstungsbereich, weil es häufig um „Dual Use“-Produkte gehe – also Erzeugnisse, die sowohl im militärischen als auch im zivilen Bereich genutzt werden können.

Michael Stark schreibt aus der Münchner aktiv-Redaktion vor allem über Betriebe und Themen der bayerischen Metall- und Elektro-Industrie. Darüber hinaus beschäftigt sich der Volkswirt immer wieder mit wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen. Das journalistische Handwerk lernte der gebürtige Hesse als Volontär bei der Mediengruppe Münchner Merkur/tz. An Wochenenden trifft man den Wahl-Landshuter regelmäßig im Eisstadion.
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