Frankfurt. Fast jedes fünfte Unternehmen der hessischen Metall- und Elektro-Industrie (M+E) hat schon einzelne oder alle seine Produktionsprozesse digitalisiert. Bei fast jedem zehnten sind die smarte und voll digitalisierte Fabrik mit selbstregulierenden Prozessen in Echtzeit Wirklichkeit oder ein klar definiertes Ziel. Dennoch gibt es noch viel zu tun. Das ist der Befund der Frühjahrsumfrage des Arbeitgeberverbands Hessenmetall unter seinen Mitgliedsunternehmen. An der Umfrage, diesmal zur digitalen Produktion, beteiligten sich 142 Betriebe mit knapp 43.600 Beschäftigten.

Beim Hessenforum, dem Spitzentreffen der M+E-Industrie Mitte Mai in der Klassikstadt in Frankfurt, gaben einige Unternehmen Einblicke in ihre smarten Fabriken und ihre Fortschritte bei der Arbeitsorganisation oder der Vernetzung von Maschinen- und Geschäftsdaten.

EU-Kommissar Günther H. Oettinger und Hessenmetall-Vorstandsvorsitzender Wolf Matthias Mang beleuchteten den Zusammenhang von Digitalisierungserfolg und europäischer Perspektive. Wie Mang betonte, ist die Digitalisierung in der Industrie keine Evolution, sondern vielmehr Revolution.

„Industrie 4.0 bedeutet das Ende der Industrie, wie wir sie kennen - weg von der Massenfertigung hin zu einer personalisierten Maßanfertigung, also einer perfekt an die Bedürfnisse der Kunden angepassten Herstellung von Produkten und Dienstleistungen“, betonte der Unternehmer.

Von Industrie 4.0 zu Wohlstand 4.0

Ziel müsse es sein, die geschlossenen Wertschöpfungsketten in den Unternehmen vollständig in die digitale Welt zu übertragen. Mang: „Zwar werden wir keine Konsumentenplattformen wie Google, Amazon oder Alibaba aus dem Boden stampfen, aber wenn wir es schaffen, Geschäftsplattformen zum Beispiel für Smart Building, Smart City, Smart Cars oder Smart Farming zu entwickeln, in denen die Zulieferer gemeinsam Applikationen schmieden, um ihre Kunden erfolgreicher zu machen, dann haben wir gute Chancen, aus Industrie 4.0 Wohlstand 4.0 zu machen.“ Zu schaffen sei dies jedoch nur in einem europäischen digitalen Binnenmarkt mit seinen rund 500 Millionen Menschen und 21 Millionen Unternehmen.

Unterstützung forderte Mang von der Politik. In die digitale Infrastruktur müsse kräftig investiert werden, der Ausbau des Mobilfunkstandards 5G und des Glasfasernetzes müsse vorangetrieben werden. Plattformen müssten so reguliert werden, dass Datenmonopole nicht missbraucht werden können und Wettbewerb möglich bleibt.

Die Bedeutung der digitalen Infrastruktur griff EU-Kommissar Oettinger in seiner Videobotschaft zum Hessenforum auf – wegen einer zeitgleichen Ratssitzung der Finanz- und Wirtschaftsminister konnte er nicht persönlich an der Veranstaltung teilnehmen. Er sieht in dem ungehinderten Fluss von nicht-persönlichen Daten (free flow of data) eine wichtige Voraussetzung für einen funktionierenden Binnenmarkt.

Oettinger: „Es geht um die digitale Souveränität in Europa.“ Digitale Strategien machten nur auf EU-Ebene Sinn. „Nur in europäischen Forschungsteams können wir mit der Forschung und Entwicklung der vom Pentagon unterstützten Technologien in Kalifornien sowie mit der Dynamik und dem unbedingten Willen Chinas in Wettbewerb treten“, ist der EU-Kommissar überzeugt.

Allianzen und offene Ökosysteme sind auch nach Aussage von Jürgen Krämer, Software AG (SAG) in Darmstadt, für den Erfolg in der deutschen Industrie entscheidend. „Wenn Daten das Öl unserer Zeit sind, dann sind Plattformen des Industrial Internet of Things (IIoT) die Raffinerie“, betonte der General Manager der SAG-Division IoT und Analytics. Stichwort Internet der Dinge: IIoT-Plattformen bieten die technologische Basis für eine herstellerübergreifende Vernetzung und die Umsetzung neuer Geschäftsmodelle. „Die Reise geht in die Cloud, ob man möchte oder nicht, aber jeder muss für sich selbst entscheiden, wann er das tut und wie“, sagte der promovierte Informatiker.

Veredelte Daten bereitstellen und daraus Nutzen ziehen

Krämer: „Mit ihrer Hilfe bekommt man Zugang sowohl zu Maschinen- als auch Business-Daten, kann durch Analysewerkzeuge Einblicke gewinnen und Effizienzen steigern und schließlich veredelte Daten gezielt bereitstellen und daraus einen finanziellen Nutzen ziehen.“ Wie er betonte, ließen sich so sogar neue Geschäftsmodelle aufbauen.

Thomas Jäger, Vorstandschef von Jäger Direkt in Heppenheim, ist überzeugt: „2025 werden wir die Hälfte unserer Erträge mit Geschäftsmodellen machen, die wir heute noch nicht kennen.“ Das Unternehmen ist mitten im Wandel vom Zulieferer für das Elektrohandwerk zum Komplettanbieter für Smart-Building-Lösungen. Für den Traum einer smarten Elektrofabrik hat die Firma 16 Millionen Euro in die Hand genommen.

Jäger: „Wir suchen den Weg zur komplett integrierten Vernetzung – von der Integration in unserer Produktion über unsere Prozesse bis zu den Mehrwerten, die wir unseren Kunden für deren Marktbearbeitung zur Verfügung stellen können.“ Er forderte auch dazu auf, die Ängste der Menschen ernst zu nehmen und sie dem Nutzen gegenüberzustellen, der sich aus der Digitalisierung für sie ganz persönlich, aber auch für die Wirtschaft und damit für unser aller Wohlstand ergeben kann. „Ansonsten werden wir zu lange brauchen und den Anschluss an die Weltmärkte verlieren.“ Für ihn und seine Mitarbeiter steht fest: „Digitalisierung heißt auch ausprobieren, Spaß haben und neugierig darauf sein, Nutzen zu schaffen.“

Um Nutzen zu schaffen, werden Simulationen und Technologien wie künstliche Intelligenz sowie Deep Learning laut Edgar Dietrich von Hexagon Manufacturing Intelligence in Wetzlar immer mehr an Bedeutung gewinnen: „Dank Simulationssoftware können wir schon jetzt ein komplettes Getriebe simulieren, ohne überhaupt ein Getriebe zu bauen.“

Durch Simulation könne man eine komplette Produktion ablaufen lassen. Und erst wenn in der digitalen Welt alles reibungslos funktioniert, der digitale Zwilling steht, wird produziert – das ist das Ziel. Dietrich: „Schon jetzt ist unglaublich viel möglich - aber wir haben auch noch unglaublich viel zu tun.“

Potenziale der Digitalisierung größtmöglich nutzen

Jan Mrosik, COO Digital Industries Siemens AG in Nürnberg, sieht die digitale Transformation als große Chance für die produzierende Industrie. Der promovierte Ingenieur: „Um die Potenziale der Digitalisierung größtmöglich zu nutzen, müssen Unternehmen ihre gesamte Wertschöpfungskette betrachten, denn Produkte müssen schneller, flexibler und effizienter hergestellt werden, bei gleichbleibender Qualität und unter Berücksichtigung höchster Sicherheitsanforderungen.“

Mit dem Konzept „Digital Enterprise“ hilft Siemens seinen Kunden, Produktentwicklungszeiten zu verkürzen, Flexibilität und Produktivität zu erhöhen und neue Geschäftsmodelle zu etablieren. „Dies gilt sowohl für kleine und mittelständische als auch für globale Unternehmen“, so Mrosik.

Die Digitalisierung geht schließlich alle an.

Praxiswissen: Das sagen Experten aus den Unternehmen
 

Dr. Jan Mrosik, COO Digital Industries Siemens AG

„Produkte müssen schneller, flexibler und effizienter hergestellt werden, bei gleicher Qualität.“

Thomas Jäger, CEO von Jäger Direkt, Heppenheim

„Digitalisierung heißt auch, Spaß haben, ausprobieren und neugierig darauf sein, Nutzen zu schaffen.“

Dr. Edgar Dietrich von Hexagon Manufacturing Intelligence, Wetzlar

„Wir können schon jetzt ein komplettes Getriebe simulieren, ohne überhaupt ein Getriebe zu bauen.“