Der Psychologe und Buchautor Stephan Grünewald („Wie tickt Deutschland“) legt Deutschland regelmäßig „auf die Couch“. Im Auftrag von Industrie und Handel führen die rund 50 Marktforscher seines Kölner Rheingold-Instituts jährlich knapp 5.000 sogenannte Tiefeninterviews mit Freiwilligen: zwei- bis dreistündige Gespräche, in denen sie viel über die Ängste und Sehnsüchte der Menschen erfahren – und über die Stimmung im Land.
Herr Grünewald, wie geht’s uns als Gesellschaft gerade?
Wir befinden uns in einem Zustand gestauter Bewegungsenergie. Das heißt: Wir wissen, wir müssten als Gesellschaft eigentlich etwas tun, um nach vorne zu kommen, ziehen uns aber stattdessen in unser privates Schneckenhaus zurück. Und hoffen, dass die Zustände, wie wir sie kennen, trotz aller Krisen noch ein paar Monate oder Jahre so bleiben.
Warum lassen wir uns so lahmlegen?
Das liegt daran, dass viele Menschen ihre Welt gerade in eine Eigen- und eine Außenwelt aufspalten. Am Thema Zuversicht lässt sich das gut illustrieren: Während die Deutschen im Privatleben sehr optimistisch sind – in unseren Studien behaupten das 87 Prozent –, nehmen sie die Welt draußen dagegen als bedrohlich wahr. Nur 23 Prozent blicken aktuell zuversichtlich auf Politik und Gesellschaft. Als Reaktion darauf ziehen sie sich zurück ins Private. Hier ist es sicher und überschaubar, und hier hat man das Gefühl, selbst noch etwas bewirken zu können.
Haben wir dieses Gefühl bei den gesellschaftlichen Herausforderungen nicht?
Nein. Und zwar deshalb, weil wir die globalen Krisen mittlerweile als eine Art Zombies erleben. Als ewige Wiedergänger, die nicht totzukriegen sind. Das erweckt Ohnmachtsgefühle. Studien zeigen, dass Menschen ihren Nachrichten-Konsum deswegen schon stark eingeschränkt haben.
Sie flüchten also aus der bedrohlichen Realität ins Private.
Sie spannen einen Verdrängungsvorhang zwischen Eigen- und Außenwelt. Allerdings ist der im unteren Bereich transparent: All das, was meine Schneckenhaus-Wirklichkeit direkt betrifft – steigende Mieten, ausufernde Bürokratie, einstürzende Brücken –, all das nehme ich schon wahr. Globale Themen wie Krieg und Klimawandel dagegen werden weitgehend ausgeblendet. Wir merken das in unseren Interviews: Wenn wir über den Klimawandel reden, werden die Leute seltsam entspannt.
Woran liegt das?
Das liegt daran, dass Krisen jeweils unterschiedliche psychologische Krisenlogiken haben. Die Corona-Pandemie zum Beispiel hatte ein exponentielles Wachstum. Gleichzeitig hatte man das Gefühl, etwas tun zu können – mit Masken und anderen Schutzmaßnahmen. Krieg dagegen ist mit einer Eskalationslogik verbunden, er kann über Nacht zum Flächenbrand werden. Das paralysiert die Leute und führt langfristig dazu, dass sie das Thema komplett verdrängen, wenn sich die Eskalation nicht direkt zeigt. Die Klimakrise wiederum ist mit einer linearen Logik verbunden.
Die Gefahr, beziehungsweise die Temperatur, steigt langsam aber kontinuierlich an.
Genau. In so und so viel Jahren steigt die Temperatur um 1,5 Grad. Das wirkt im Vergleich zu Corona mit seinem exponentiellen Wachstum schon fast beruhigend, weil es scheinbar berechenbar ist. Es sei denn, es eskaliert wie bei der Flutkatastrophe im Ahrtal. Die Leute reagieren wie der berühmte Frosch: Wenn man ihn ins kochende Wasser wirft, springt er panisch aus dem Bottich. Setzt man ihn ins lauwarme Wasser, lässt er sich linear verkochen. In diesem Verkochungszustand sind wir.
„Wir füllen das visionäre Vakuum mit einem Retro-Trend.“
Psychologe Stephan Grünewald
Rührt unser derzeitiger Gemütszustand nicht auch daher, dass wir gerade vieles schlechtreden? Hemmt uns das nicht?
Es ist wichtig, Probleme zu benennen. Und das „Schlechtreden“ kann man auch als Qualität deuten: Die sprichwörtliche „German Angst“ ist Teil unserer Bewältigungsstrategie. Wir haben mal eine Studie zum Optimismus gemacht, daran kann man das gut zeigen: Während die Amerikaner einen „Yes we can“-Optimismus haben und zuerst die Chancen sehen, haben wir Deutschen einen sekundären Optimismus. Das heißt: Wir fokussieren erst mal die Gefahren, reden über all das, was schieflaufen könnte. Das ist gar nicht so verkehrt, weil es die Ortskenntnis erhöht. In der Regel sind wir aus diesem gesteigerten Problembewusstsein später immer in eine zielgerichtete Handlung gekommen. Und genau da liegt heute das Problem: Wegen der gestauten Bewegungsenergie laufen wir Gefahr, im Jammern steckenzubleiben.
Also Stillstand stand Aufbruch.
Genau. Wir sind gerade überhaupt nicht in Aufbruchsstimmung. Wir wissen auch gar nicht, wohin wir aufbrechen sollten. Im Gegenteil: Wir füllen das visionäre Vakuum mit einem Retro-Trend und recyceln Aufbruchsstimmungen und Geborgenheitserfahrungen aus früheren Jahrzehnten.
Wie kommen wir da als Gesellschaft wieder raus?
Um wieder ins Handeln zu kommen, brauchen wir drei Dinge: Sinn, Selbstwirksamkeit und Gemeinschaft. Bei der Bewältigung der Energiekrise kam all das mustergültig zusammen: Damals gab es eine negative Vision, die alarmierend und aktivierend wirkte – nämlich die Vorstellung, dass wir in unserem Schneckenhaus bald bei Blackout in der Kälte sitzen. Gleichzeitig konnte man selbst etwas Konkretes tun: Jeder hatte einen starken Arm, um am Thermostat zu drehen und Energie zu sparen. Außerdem hatten alle das Gefühl, es passiert etwas gemeinschaftlich. Die Industrie tut was, die Bürger tragen ihren Teil bei und die Regierung kümmert sich um die LNG-Terminals. All das führte dazu, dass ein Ruck durchs Land ging und am Ende 20 Prozent Energie gespart wurden. Damals waren die Leute auch nicht so unzufrieden, weil sie sich einbezogen fühlten in eine kollektive Aufgabe.
Was bräuchte es, um wieder so eine Anpacker-Mentalität zu schaffen?
Zunächst mal müsste man die Probleme klar benennen und ein Ziel aufzeigen. Dann würde es helfen, wenn wir uns wieder auf unsere Stärken besinnen würden: Deutschland ist ja einerseits das Land des Tüvs, in dem alle abgesichert sind, aber eben auch das Land der Tüftler. Ich denke, unser Erfindungsreichtum kann uns in dieser Situation nach vorne bringen, Not macht ja bekanntlich erfinderisch. Aber dazu brauchen wir auch Freiheit, damit wir nicht alles in Bürokratie und Datenschutzvorgaben ersticken, was an positiver Verrücktheit da ist.
Michael Aust berichtet bei aktiv als Reporter aus Betrieben und schreibt über Wirtschafts- und Verbraucherthemen. Nach seinem Germanistikstudium absolvierte er die Deutsche Journalistenschule, bevor er als Redakteur für den „Kölner Stadt-Anzeiger“ und Mitarbeiter-Magazine diverser Unternehmen arbeitete. Privat spielt er Piano in einer Jazz-Band.
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