Mühlhausen/Berlin. Die Stimme des Volkes mampft Rinderleber. Die Kneipe „Gambrinus“ im thüringischen Mühlhausen, weiße Gardinen, dunkle Holzdecke, die Kellnerin wuchtet Hauptgerichte ins Hinterzimmer. Dort versammelt: 30 Mitglieder der rechtspopulistischen AfD.

Die Mienen sind grimmig. Ein Redner geißelt „Lügenpresse“, „Gutmenschen“ und „Systemparteien“. Nach 20 Minuten kommt sein Schlussakt: „Denkt an eure Kinder. Wenn die eine Zukunft in Deutschland haben sollen, muss sich alles ändern!“ Applaus, er eilt zum Tisch – die Leber wird kalt.

Szenenwechsel: das noble Allianz Forum in Berlin, am Brandenburger Tor. In Ledersesseln reden sich Experten die Köpfe heiß, vor 500 geladenen Gästen, auf Initiative des Versicherungskonzerns und der Stiftung Marktwirtschaft. Thema: „Bringt Wachstum Wohlstand für alle?“ Also: Was kann man den Wutbürgern von Mühlhausen sagen?

Angesichts der „antiliberalen Revolte in den Kernländern des Westens“, meint Ralf Füchs, Chef der Heinrich-Böll-Stiftung, müsse man nach den sozialen und wirtschaftlichen Ursachen suchen. „Und wir können nicht einfach antworten, es ist alles paletti.“

Wolfgang Schäuble, der Bundesfinanzminister, sagt es so: „Die Soziale Marktwirtschaft ist das beste System, was wir je hatten. Aber perfekt ist sie nicht.“ Er spricht von „Korrekturfähigkeit“, davon, dass die Politik noch mehr „Durchlässigkeit“, also Aufstiegschancen, schaffen sollte. Die Armutsdebatte aber, so Schäuble, sei „irreführend“.

Droht Deutschland eine Diktatur der Frustrierten?

Denn: Vorurteilen zum Trotz sind die Einkommen kaum ungleicher verteilt als 2005 – und der Staat verteilt kräftig um (siehe Grafik unten).

Warum also haben die Populisten so Rückenwind? Das fragt sich auch Pfarrer Teja Begrich. Der Leiter der Evangelischen Gemeinde Mühlhausen sitzt an seinem wuchtigen Schreibtisch im Haus der Kirche und zieht die Stirn in Falten. „Wenn jetzt Wahlen wären, würde die AfD bei uns abräumen“, sagt er.

Warum das so ist, kann sich auch der Theologe nicht so recht erklären. Verfallene Straßenzüge, Massenarbeitslosigkeit – das suche man hier ja vergeblich. „Trotzdem meckern viele ständig. Die haben eine warme Wohnung, vor der Tür parkt das Auto, auf dem Markt essen sie Bratwurst. Aber sie meckern.“

Würde man eine Deutschlandkarte an die Wand pinnen und mit einem Dartpfeil auf die Mitte zielen, er schlüge in Mühlhausen ein. 34.000 Bürger, mittelalterliche Gassen, restaurierte Fassaden. 1.050 Jahre Stadtgeschichte.

Bloß: Schon 2014, bei der Landtagswahl in Thüringen, wählten 12 Prozent der Mühlhäuser die AfD. Inzwischen ist es eine Hochburg der Partei. Der Chef der Landtagsfraktion Björn Höcke hat hier sein Wahlkreisbüro – ein Mann, der nach seiner Skandalrede zum Holocaust-Gedenken selbst dem AfD-Bundesvorstand nicht mehr geheuer ist.

Aufstand der Abgehängten, Diktatur der Frustrierten – so beschreiben Leitmedien wie „Spiegel“, „Welt“ und „Stern“ die drohende Gefahr durch Rechtspopulisten. Doch wer sich hier in Mühlhausen umschaut, beginnt zu zweifeln, ob das den Punkt trifft.

Nicht nur bundesweit hat die Soziale Marktwirtschaft ordentlich geliefert: Rekordbeschäftigung, stabile Preise, deutlich höhere Löhne und die kräftigste Rentenerhöhung seit Jahrzehnten. Auch in und um Mühlhausen geht es aufwärts. Der Bevölkerungsschwund ist gestoppt. Die Erwerbslosenquote im Unstrut-Hainich-Kreis lag zuletzt bei 9 Prozent. Das ist etwa halb so hoch wie 2005 – und auf einem Niveau, von denen so manche Kommune im Ruhrgebiet nur träumt.

„Uns geht es doch blendend in Deutschland“, resümiert Pfarrer Begrich. „Und auch die Entwicklung in Mühlhausen ist absolut positiv.“

Dass das Glas eher halb voll ist, sieht man auch beim AfD-Stammtisch in der Kneipe so. „Ja, große Probleme mit Arbeitslosigkeit haben wir hier nicht mehr“, sagt ein Parteimitglied unumwunden. Vielmehr hätten zum Beispiel Handwerksbetriebe Schwierigkeiten, Stellen zu besetzen.

„Die Situation hier ist insgesamt viel besser als früher“, sagt der Mann und nippt an seiner Cola. „Aber das soll ja auch so bleiben“, fügt ein anderer hinzu. Und dann, urplötzlich, steigt die Fieberkurve. Das Land stehe kurz vor einem Bürgerkrieg, man brauche schnell „eine lenkende Hand“, tönt ein Funktionär. „Oder deutsche Atomwaffen“, sagt ein anderer. Man müsse „wieder was darstellen“. Sich „Respekt holen im Ausland“.

Kann man solcher Irrlichterei mit Wirtschaftspolitik begegnen? Die Regierung versucht das – und betont ihr Versprechen, keinen außen vor zu lassen: „Für inklusives Wachstum“, hat sie soeben ihren Jahreswirtschaftsbericht überschrieben. Und einer ihrer Top-Berater, der Wirtschaftsweise Professor Lars Feld, zitiert dazu in der Expertenrunde am Brandenburger Tor einen einfachen Satz: „Sozial ist, was Arbeit schafft – das gilt immer noch.“

Heißt: Man dürfe die Betriebe nicht überfordern, weder durch Auflagen noch durch zu teure Tarifverträge. Eindringlich warnt Feld davor, „falsche Sozialstaatsansätze aus den 70ern“ wiederzubeleben.

Stattdessen lenkt der Wirtschaftsweise den Blick auf den Kern. Umverteilungspolitik sei gar kein Rezept gegen die AfD – denn ihr Erfolg habe mit sozialen Missständen wenig zu tun. „Er ist zu über 90 Prozent der Flüchtlingsmigration geschuldet.“ 2015 habe sich die Partei fast schon selbst zerlegt. Dann kam die unkontrollierte Grenzöffnung – ein „Beschäftigungsprogramm für AfD-ler“.

Damit könnte er richtig liegen. In der Kneipe in Mühlhausen fliegen die verbalen Pfeile mittlerweile tiefer, nach den „linksversifften Eliten“ sind die Ausländer dran. Neulich, fabuliert ein Parteimitglied, habe hier ein Asylbewerber „für einen Monat 30.000 Euro Stütze eingestrichen, der kam mit 6 Frauen und 24 Kindern“. Aber für die Schulen sei kein Geld da. „Da muss man mit dem eisernen Besen durchkehren.“

Nun ja. Im Landkreis um Mühlhausen, wo der Ausländeranteil viel niedriger ist als im Bundesdurchschnitt, leben 10.000 Einwohner von Hartz IV. Sie erhalten insgesamt 4 Millionen Euro pro Monat. Davon profitiert auch ein Mittdreißiger, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte.

In einer Spielhalle am Stadtrand sitzt er morgens kurz vor 11 Uhr auf einem Barhocker, im Dämmerlicht. Nein, einen Job habe er derzeit nicht, erzählt er in breitem thüringischen Dialekt. Ab und zu kriege er was für ein paar Monate, zuletzt habe er Pralinen abgepackt.

Für einen Job umziehen? Will er nicht. „Meine Freunde sind hier, was soll ich woanders?“ Das Amt zahle ihm und seiner Frau ja den Regelsatz, und für den vierjährigen Sohn gebe es was extra. „Damit kommen wir klar.“ Das Geld stehe ihm ja auch zu, findet er. Dann wandert die nächste Münze in den Schlitz.

Solchen Menschen, das ist das Fazit der Expertentagung in Berlin, wäre mit 15 Euro mehr Hartz IV nicht wirklich geholfen. Trotzdem habe die Soziale Marktwirtschaft offene Handlungsfelder – bei Bildung, Qualifizierung, Kinderbetreuung, digitaler Infrastruktur. Eine Idee aber, die immer wieder herumgeistert, sei für „inklusives Wachstum“ definitiv schlecht: das „bedingungslose Grundeinkommen“.

Das würde erst wirklich Abgehängte produzieren, sagt Stiftungsvorstand Füchs. „Es wäre eine Stilllegungsprämie für Teile unserer Bevölkerung. Die Botschaft wäre: Wir brauchen euch nicht mehr.“

Aufstand der Abgehängten? Was die Soziale Marktwirtschaft für die Schwachen tut

  • Auf 888 Milliarden Euro summierten sich laut Bundesregierung 2015 die Sozialleistungen in Deutschland. 2000 waren es 608 Milliarden. Sie stiegen auch preisbereinigt, um 17 Prozent.
  • Zudem werden niedrige Einkommen durch die progressive Einkommensteuer begünstigt. Das oberste Zehntel hat 37 Prozent der Einkünfte, zahlt aber 55 Prozent der Steuern.
  • Insgesamt wird die Einkommensverteilung dadurch viel gleicher. Nur in 3 der 27 anderen EU-Länder ist dieser Effekt ausgeprägter als bei uns, die Nettoeinkommen sind gleicher als im EU-Schnitt, so eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW).