Potsdam. Der eine arbeitet nur 32 Stunden in der Woche, weil seine alten Eltern Hilfe im Haushalt brauchen, der andere 40 Stunden, weil im Betrieb das Geschäft brummt. Ein Dritter leistet sogar 44 Stunden, denn er will sein Eigenheim schneller abzahlen. Alle drei sind Mitarbeiter derselben Firma – und nach Tarif beschäftigt.
So viel Flexibilität macht der neue Manteltarifvertrag möglich, den der Arbeitgeberverband Nordostchemie und die Gewerkschaft IG BCE kürzlich nach fünf intensiven Verhandlungsrunden in Potsdam für die 30.500 Branchen-Beschäftigten vereinbart haben. Der neue Vertrag gibt für die wöchentliche betriebliche Arbeitszeit nur noch einen Korridor von 32 bis 40 Stunden vor.
Künftig vereinbaren die Betriebsparteien, wie lange gearbeitet wird
„Welche Arbeitszeit in diesem Rahmen genau in einem Unternehmen oder einem Betrieb gilt, entscheiden künftig Betriebsrat und Geschäftsführung gemeinsam“, erklärt Karl Heinz Tebel, Vorsitzender des Arbeitgeberverbands und Mitglied im Verhandlungsteam. Genauso maßgeschneidert kann die Arbeitszeit für einzelne Beschäftigte ausfallen, von 32 Wochenstunden an aufwärts. Die Details regelt eine Betriebsvereinbarung.
Entsprechend positiv fällt die öffentliche Reaktion auf den als „Potsdamer Modell“ bezeichneten neue Manteltarif aus. Er wird als beispielhaft gelobt, als modern und zukunftsweisend. „Wir haben gemeinsam eine Lösung erarbeitet, die beiden Seiten gerecht wird und in die Zeit passt“, sagt Tebel.
Eigentlich ging es bei den Verhandlungen darum, die Wochenstundenzahl im Osten an die im Westen anzugleichen, was auch vereinbart wurde. Zugleich ist etwas völlig Neues herausgekommen. „Die Vielfalt, Arbeitszeit betrieblich und individuell differenziert und unterschiedlich festzulegen, ist einmalig“, ist sich Tebel mit den Verhandlungsführern Peter Hausmann von der IG BCE und Thomas Naujoks vom Arbeitgeberverband einig. Von den neuen Regeln profitieren Betriebe und Mitarbeiter gleichermaßen. Sie stärken die Flexibilität und Leistungsfähigkeit der Unternehmen, sagt Tebel, und sichern damit deren Wettbewerbsfähigkeit, obwohl die West-Angleichung diese durch steigende Arbeitskosten etwas dämpft.
Und die Regeln bieten Arbeitnehmern mehr Möglichkeiten, Beruf und Privates unter einen Hut zu bekommen. Etwa, um mehr Zeit für ihre Kinder zu haben. Von dieser Flexibilität bei der Arbeitszeit erhofft sich die Branche zudem bessere Chancen beim Rekrutieren des Fachkräfte-Nachwuchses.
Das ist wichtig, weil die Belegschaften älter werden, bald starke Mitarbeiterjahrgänge in den Ruhestand gehen und zudem die Zahl der Erwerbstätigen in Ostdeutschland stärker zurückgeht als im Westen. Tebel: „Dieser Vertrag ist – wie bereits der Tarifvertrag für eine lebensphasengerechte Arbeitszeitgestaltung – ein Pluspunkt beim Werben nicht nur um qualifizierten Nachwuchs, sondern auch um Investitionen für die ostdeutsche Chemie-Industrie.“
Was noch im Regelwerk steht:
- Die wöchentliche Arbeitszeit wird von den Betriebsparteien vereinbart. Grundlage ist das benötigte Arbeitsvolumen. Gibt es keine Einigung, gilt die tarifliche Auffangregelung. Sie sieht vor, dass die tarifliche Wochenarbeitszeit Anfang 2019, 2021 und 2023 um je 30 Minuten reduziert wird.
- Basis für das Monatsentgelt sind am Ende 38,5 Stunden, eine Stunde mehr als in der West-Chemie. Diese Stunde fließt in einen Fonds für lebensphasengerechte Arbeitszeitgestaltung und soll zum Beispiel Familienphasen, verkürzte Arbeitszeit im Alter, Fortbildung und Gesundheitsmaßnahmen ermöglichen.
- Das Entgelt richtet sich nach der Stundenzahl. Wer länger arbeitet, als im Betrieb vereinbart, verdient mehr und erhält oberhalb von 40 Stunden Überstundenzuschlag.