Winnenden/Berlin. Ein Unfall in den österreichischen Alpen veränderte alles. Christoph S. stürzt. Von einer Sekunde auf die andere ist das Armgelenk zertrümmert. Eine Operation folgt, nach der sind alle Finger unbeweglich. Heute kann er offen darüber reden, aber seinen kompletten Namen will er trotzdem nicht hier lesen.

Seine Arbeit in der Logistik beim Reinigungsgerätehersteller Alfred Kärcher GmbH & Co. KG kann der gelernte Fensterbauer nach dem Unfall nicht mehr ausführen. „Ich dachte, das war’s. Jetzt muss ich in den Vorruhestand“, sagt der 54-Jährige heute – sieben Jahre später. Inzwischen hat er ein künstliches Gelenk. Die Beweglichkeit seiner Finger musste er neu lernen.

Alle zusammen arbeiten an einer optimalen Lösung

So wie früher wird er sich nie wieder bewegen können. Aber er arbeitet immer noch bei Kärcher in Winnenden und testet Geräte. „Das Unternehmen hat ein ganz neues Tätigkeitsfeld für mich kreiert“, so Christoph S.

Das Beispiel ist eines von vielen dafür, wie Betriebe arbeitsunfähige Mitarbeiter unterstützen und betriebliches Eingliederungsmanagement, kurz BEM, gestalten. Das ist seit 2004 auch gesetzlich geregelt. Und so funktioniert es: Wenn ein Mitarbeiter länger als sechs Wochen krank ist, bekommt er ein Schreiben vom Arbeitgeber. Dann schließen sich Gespräche an, in denen gemeinsam versucht wird, eine Lösung zu finden. Die Teilnahme an dem gesamten Verfahren ist für die betroffenen Mitarbeiter freiwillig.

Das können beispielsweise eine arbeitsmedizinische Beratung, eine stufenweise Wiedereingliederung am bisherigen Arbeitsplatz oder eine Qualifizierung wie etwa eine Umschulung sein. Und machmal reicht eben auch ein Hilfsmittel wie etwa ein höhenverstellbarer Stuhl oder eine spezielle Hebebühne.

„Eingliederungsprozesse können bis zu zwei Jahre dauern“, erklärt Erwin Muth, im Winnender Kärcher-Werk der Beauftragte für BEM. „Wir haben bestimmt zehn verschiedene Tätigkeiten mit unserem Mitarbeiter durchprobiert, bis wir das Passende gefunden haben.“ Christoph S. war offen für einen solchen Prozess, obwohl der Ausgang ungewiss war. „Die Bereitschaft der Mitarbeiter ist eine der wichtigsten Voraussetzungen“, so Muth.

Nicht nur Unfälle führen zu Arbeitsunfähigkeit. So können etwa auch Magengeschwüre, Bandscheibenvorfälle oder psychische Krankheiten jemanden außer Gefecht setzen. Laut Krankenkassendachverband BKK haben Langzeiterkrankungen zugenommen. „Und die verursachen nahezu die Hälfte aller Arbeitsunfähigkeitstage“, heißt es im aktuellen Gesundheitsreport.

„In Zeiten von Fachkräftemangel können es sich Unternehmen gar nicht leisten, erfahrene Mitarbeiter ihrem Schicksal zu überlassen“, so Norbert Breutmann von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände in Berlin. Und die Beschäftigten profitieren. Breutmann: „Das betriebliche Eingliederungsmanagement ist eine riesige Chance für Betroffene. Denn das Risiko, nach einer längeren Erkrankung frühverrentet zu werden, ist hoch. Und Frühverrentung ist ein absolutes Armutsrisiko.“

Immer mehr Unternehmen etablieren ein Eingliederungsmanagement. „Es hat sich sehr viel getan in den letzten Jahren“, weiß Ralf Stegmann von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin in Berlin. „In großen Betrieben ist es inzwischen selbstverständlich. In mittleren Betrieben versuchen immer mehr, BEM erfolgreich umzusetzen, in kleinen ist oft externe Unterstützung notwendig.“

In großen Unternehmen gibt es bereits eigene Abteilungen zu dem Thema. Sie kooperieren mit Schwerbehindertenbeauftragten, Krankenkassen, Integrationsämtern und Ärzten.

Wie etwa im niedersächsischen Stahlkonzern Salzgitter in der gleichnamigen Stadt. Betriebsärzte, Krankenkasse, die Deutsche Rentenversicherung, ein ambulantes Rehazentrum, ein Fitnesscenter und eine Klinik arbeiten als Partner zusammen. In dieser Kooperation versuchen Experten, den optimalen Weg für Mitarbeiter zu finden. „Solche Modelle sind zukunftsweisend“, sagt Stegmann.

Ein weiterer Vorreiter in Sachen BEM ist der Automobilhersteller Ford. Es war das erste Unternehmen europaweit, das die Bedeutung von Disability-Management erkannt hat. Bereits 2001 begann der mehrfach für sein BEM ausgezeichnete Konzern mit dem Aufbau eines betrieblichen Wiedereingliederungsmanagements.

Die Akzeptanz wächst immer mehr

Die Quote ist hoch. „Wir schauen immer zuerst, was ein Mitarbeiter kann, und nicht, was er nicht kann“, sagt Disability-Managerin Sonja Grunau. Allein in diesem Jahr haben rund 900 Mitarbeiter am Standort Köln (von insgesamt 17.300) einen BEM-Prozess durchlaufen. „Die Akzeptanz wächst.“ Auch jenseits der Betriebe wird das Thema wichtiger: Kliniken bieten Beratungsservices für Betriebe. Die Deutsche Rentenversicherung unterstützt mit einem Firmenservice. Der Arbeitgeberverband Gesamtmetall hat einen Leitfaden für Firmen entwickelt.

Dass betriebliche Eingliederung kein Tabuthema ist, spürt auch Christoph S. von Kärcher in Winnenden. Er hat Menschen mit ähnlichem Schicksal gefunden, die ihre alte Tätigkeit nicht mehr bewältigen können: „Das Neue macht mir auch Spaß. Nur hin und wieder vermisse ich meine alten Kollegen.“

    Hilfsmittel, Informationen, Beispiele aus der Praxis

    • Eine Informationsplattform zur beruflichen Teilhabe von Menschen mit Behinderung bietet das Programm Rehadat.

    • Im Zusammenhang mit BEM findet man bei Rehadat unter anderem Praxisbeispiele für Arbeitsgestaltung, Hilfsmittel, rechtliche Grundlagen, Urteile im Volltext, Literaturhinweise, Beratungsadressen und Lexikonartikel.

    • Ergänzend gibt es die Rehadat-Wissensreihe zur Arbeitsgestaltung mit den Schwerpunkten Diabetes, Rollstuhlnutzer, Inkontinenz, Multiple Sklerose und Epilepsie.

    • Rehadat richtet sich an alle am BEM-Beteiligten: den betroffenen Arbeitnehmer, seine Interessenvertretung, Arbeitgeber und Betriebsarzt.

    • Das Programm wird vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales gefördert und ist ein Projekt im Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW).

    • Alle Portale sind über die zentrale Einstiegsseite rehadat.de zu erreichen.