Es ist alles da, um wehrhaft zu werden: der politische Wille, das Geld, der Rückhalt der Bevölkerung. Und dennoch stehen wir uns selbst im Weg, sagt Militärsoziologe Timo Graf, wissenschaftlicher Oberrat am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam. Dort forscht er zur öffentlichen Meinung in der Bundesrepublik Deutschland zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik und leitet die jährlichen Bundeswehr-Bevölkerungsbefragungen im Auftrag des Bundesministeriums der Verteidigung.
Herr Graf, die Wehrbereitschaft der Deutschen ist viel diskutiert, „nur“ gut 40 Prozent würden zur Landesverteidigung zur Waffe greifen …
Ja, in der Bevölkerung sind es insgesamt etwas mehr als 40 Prozent. Aber diese Bereitschaft ist sehr ungleich verteilt: 60 Prozent der Männer würden kämpfen, aber nur 20 Prozent der Frauen. Eigentlich ist es egal, ob es 20, 40 oder 60 Prozent sind – in absoluten Zahlen sprechen wir so oder so von Millionen Freiwilligen. Ich verstehe nicht, warum das ein besorgniserregender Befund sein soll. Wir reden uns ein, dass wir uns nicht aufeinander verlassen könnten. Wir sabotieren uns mit dieser Sichtweise selbst. Außerdem ist es schlichtweg falsch, die Wehrbereitschaft nur an der abstrakten Frage der persönlichen Verteidigungsbereitschaft festzumachen. Im Ernstfall wird schließlich nicht jeder zur Waffe greifen müssen, Unterstützung im Zivilen ist genauso wichtig.
Was beeinflusst denn die Wehrbereitschaft?
Alles beginnt mit der Bedrohungswahrnehmung. Nur wenn ich eine Bedrohung erkenne, kann ich darauf entsprechend reagieren. Und das tun die Menschen. Etwa 65 Prozent sehen Russland als eine ganz konkrete Bedrohung für Deutschlands Sicherheit. Das ist ein neuer gesellschaftlicher Konsens, der sich wiederum in der Zustimmung zur Stärkung der Bundeswehr widerspiegelt.
Aber widerspricht das nicht der pazifistischen deutschen Grundhaltung?
Nein, denn diese Grundhaltung gibt es nicht und hat es auch vor 2022 nicht gegeben. Diese Annahme blieb Jahrzehnte lang unhinterfragt und unbelegt. Ich würde die große Mehrheit der Deutschen eher als Pragmatiker oder Realisten bezeichnen. Das sehen wir auch in der mehrheitlichen Zustimmung zu einem neuen Wehrdienst: Die allermeisten Menschen haben die Notwendigkeit erkannt und reagieren realistisch auf die Herausforderungen der Zeit. Insgesamt sehen wir doch mit Blick auf den gesellschaftlichen Diskurs über Verteidigung, dass sich allmählich Blockaden im Kopf lösen. Früher standen wir uns selbst im Weg, insbesondere bei Diskussionen über das Thema „Ausrüstung der Bundeswehr“ und „Rüstungsindustrie“. Wir haben rhetorisch die letzten Jahre immer weiter vorsorglich abgerüstet, aus Rücksicht auf die vermeintlich pazifistische Bevölkerung. Und wir haben Dinge in Diskussionen zu Tabus erklärt, die eigentlich keine Tabus waren. Die heutigen Zeiten jedoch erfordern einen ernsthaften Diskurs mit und in der Bevölkerung.
Zeiten, in denen die Bürger auch Ergebnisse erwarten – insbesondere angesichts der dafür vorgesehenen Milliarden.
Die meisten Menschen können nicht wissen, wie komplex die Beschaffung und auch die Einführung von neuem Material in die Bundeswehr ist. Wir sollten also ein gewisses Erwartungsmanagement betreiben. Bis etwa neue Waffensysteme einsatzbereit sind, können mehrere Jahre vergehen. Das müssen wir der Bevölkerung ehrlich und transparent kommunizieren. Sonst entstehen falsche Erwartungen, die wir nicht erfüllen können, und es droht Vertrauen in einen handlungsfähigen Staat verloren zu gehen. Das können wir uns nicht leisten, auch im Sinne der Resilienz unserer Gesellschaft.
Und unsere Resilienz wird tagtäglich auf die Probe gestellt, etwa durch gezielte Falschinformationen …
… und andere hybride Kriegsführung, ja. Wir werden jeden Tag angegriffen, ausspioniert und beeinflusst – das müssen wir uns bewusst machen, auch wenn es eine unangenehme Wahrheit ist. Anders als Autokratien sind wir eine lebendige Demokratie, eine offene Gesellschaft, die Meinungsfreiheit und offene Kommunikation als hohes Gut ansieht. Das macht uns gleichzeitig aber auch sehr verletzlich. Wir bieten dem Gegner sehr viele Möglichkeiten, uns zu manipulieren.
Es gibt Sabotage an Bundeswehrfahrzeugen, Drohnensichtungen über Übungsplätzen oder Cyberangriffe auf staatliche und private Unternehmen. Und diese Angriffe nehmen zu – die Bedrohungslage war noch nie so ernst wie gerade jetzt. Daraus können wir alle schlussfolgern, dass wir nicht mehr im Frieden leben. Auch wenn sich das in unserem Alltag zunächst so darstellt.
Auch die wiederholte atomare Gewaltandrohung gehört zu Russlands hybrider Kriegsführung dazu – das ist Terror, der sich gegen jeden deutschen Bürger richtet. Durch die gezielte Erzeugung von Angst versucht Russland, unser Handeln zu beeinflussen. Aus Sicht Russlands sind wir schon lange eine Kriegspartei. Wobei wir den Begriff „Krieg“ immer vorsichtig und differenziert betrachten müssen. Russland sieht sich, nicht erst seit 2022, im Krieg mit dem Westen. Und wir müssen verstehen, dass Russland Krieg nicht als einen Zustand sieht, sondern vielmehr als ein Spektrum. Es gibt also nicht nur Krieg oder Frieden, es ist eher ein fließender Übergang. Wir müssen Russland nicht erst den Krieg erklären, damit es sich mit uns im Krieg sieht. Für diese Tatsache müssen wir uns rüsten, auch geistig.
Doch nicht nur durch Angriffe von außen wird unsere Demokratie auf die Probe gestellt. Immer wieder ist von einer „Fragmentierung der Gesellschaft“ die Rede.
Ich bin der Meinung, dass wir diese Spaltung teilweise selbst erzeugen, und zwar durch eine mangelnde Differenzierung in diesem Diskurs. Ja, es stimmt, dass Parteien wie die Linke, BSW und AfD das Thema Abrüstung und ein Zugehen auf Russland in ihren Wahlprogrammen haben – und damit auch in der letzten Bundestagswahl Wähler gewannen. Ich warne aber davor, diese Parteien als monothematische Parteien zu sehen. Denn die Menschen haben sie auch aus ganz anderen Gründen gewählt und nicht nur wegen des Themas Abrüstung.
„Wir werden jeden Tag angegriffen, ausspioniert und beeinflusst“
Wissenschaftlicher Oberrat Dr. Timo Graf
Das zeigen auch unsere Studien. Rund ein Drittel dieser Wählerschaft sieht Russland durchaus als Bedrohung und ist explizit für die Aufrüstung der Bundeswehr. Daher hilft es überhaupt nicht, wenn die Anhänger dieser Parteien pauschal als „Russland Lover“ oder Ähnliches betitelt werden, weil man viele damit vor den Kopf stößt. Ein großer Teil der Wähler am politischen rechten und linken Rand stimmt nämlich, was diese Themen angeht, eher mit der Mehrheit der deutschen Bevölkerung überein.
Fehlt Ihnen diese differenzierte Betrachtung auch im Hinblick auf die Unterschiede der Wahlergebnisse zwischen West- und Ostdeutschland?
Absolut, denn mit öffentlichen Formulierungen wie „es geht ein Riss durch die deutsche Gesellschaft“ spielen wir Russland in die Hände. Es ist nämlich keine Spaltung, die zwischen Ost- und Westdeutschland besteht. Vielmehr ist die öffentliche Meinung zu Themen wie Ukrainehilfe und Aufrüstung in den ostdeutschen Bundesländern selbst stark gespalten. Das heißt, dass viele Bürgerinnen und Bürger dort in einen ordentlichen Dialog eintreten würden und wollten. Denen die Tür vor der Nase zuzuknallen und zu sagen „ihr seid ja eh alle Putinversteher“, das ist für unsere Resilienz und eine zielführende und sachliche Diskussion in keiner Weise förderlich.
Was braucht es denn dann jetzt ganz akut?
Es würde helfen, mal das zu betonen, was schon gut läuft. Die jetzigen Zeiten erfordern weniger Pessimismus. Und das gilt nicht nur für die öffentlichen Diskussionen, sondern auch für uns im Privaten, wie wir etwa beim Stammtisch über diese Themen reden. Wir sollten nicht in einen Fatalismus verfallen, ganz nach dem Motto: Der Drops ist ja schon gelutscht, wir haben keine Chance mehr. Was es jetzt braucht, ist Mut. Mut zu erkennen: Wir haben eigentlich die besten Voraussetzungen, ein globaler Rüstungschampion zu werden und eine effektive Abschreckung zu organisieren.
Wir haben die Industrie, das Know-how, den Wehrwillen in der Bevölkerung und den bisher größten Verteidigungshaushalt. Dazu kommt unser demografisches Potenzial, sprich die Anzahl von Menschen im wehrfähigen Alter und unsere internationale Vernetzung, ebenso wie die Rückenstärkung der Nato. Und wenn die Autoproduktion bei großen deutschen Autoherstellern gerade nicht gut läuft, ist es mit Sicherheit sinnvoll zu überlegen, ob größere Rüstungsunternehmen bestimmte Produktionsstandorte übernehmen. Dass wir auf dem Weg dorthin alte Regularien neu überdenken oder auch über Bord werfen müssen, das ist doch normal. Wir müssen uns auf unsere Stärken besinnen und uns klar machen, dass wir alle Vorrausetzungen haben, um zu bestehen.

Nadine Keuthen stürzt sich bei aktiv gerne auf Themen aus der Welt der Wissenschaft und Forschung. Die Begeisterung dafür haben ihr Masterstudium Technik- und Innovationskommunikation und ihre Zeit beim Kinderradio geweckt. Zuvor wurde sie an der Hochschule Macromedia als Journalistin ausgebildet und arbeitete im Lokalfunk und in der Sportberichterstattung. Sobald die Sonne scheint, ist Nadine mit dem Camper unterwegs und schnürt die Wanderschuhe.
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