Berlin. Eine ganz normale Grundschule, irgendwo in Deutschland, ganz normaler Tag, ganz normales Chaos, und Cornelia Blum ist mittendrin. Mal wieder. Die Lehrerin steht in ihrer Klasse, vor 34 Kindern. 10 mehr als gestern, „Kollegin krank, Vertretung gibt es nicht, also haben wir ihre Klasse aufgeteilt“, sagt Blum. Zum dritten Mal in dieser Woche. Ihren vorbereiteten Unterricht kann die 62-Jährige jetzt vergessen, sie muss improvisieren.

Nicht einfach. „In meiner Klasse findet sich alles“, sagt Blum. Lernschwache und Überflieger, Sorgen-Schüler mit Verhaltensauffälligkeit, dazu Flüchtlingskinder. Für Blum eine Herausforderung. „Mein Anspruch ist, jedem Kind gerecht zu werden, jedes individuell zu fördern.“ Das aber sei kaum noch möglich. „Soll ich mich in 34 Teile zerlegen?“

Nach sechs Stunden Unterricht wird sich Blum deshalb auch an diesem Tag wieder gefrustet zum Parkplatz schleppen. „Das bringt mich um den Schlaf.“ Und damit steht sie nicht allein! Denn an Deutschlands Grundschulen herrscht allgemein: Alarmstufe Rot!

Jetzt kommen alle Defizite ans Licht

Die Grundschule – lange Zeit galt sie als das Bullerbü in der deutschen Bildungslandschaft. Als die Schule nämlich, in der alles noch irgendwie ganz gut lief. Kleine Kinder, kleine Sorgen halt. Wenn es um Bildung ging, beherrschten eher der Grabenkrieg ums Turbo-Abi oder der Ausbau der Kitas die Schlagzeilen. Aber das ist vorbei. Die Probleme an den Grundschulen, die schon länger schwelen, treten jetzt offen zutage.

Und davon gibt’s genug. Eklatanter Lehrermangel, steigende Schülerzahlen, marode Gebäude, dazu zusätzliche Mammutlasten wie die Inklusion behinderter Schüler und die Integration Zigtausender Flüchtlingskinder bringen immer mehr Grundschulen an den Rand der Überforderung.

In etlichen Brandbriefen an die Politik machen sich Schulen und Lehrer derzeit Luft. „Wir können unsere Aufgabe nicht mehr professionell erfüllen“, heißt es etwa in einem Schreiben bayerischer Pädagogen an die Landesregierung im Freistaat. Gleiche Töne aus Nordrhein-Westfalen: Dort sehen Grundschulen sich „nicht mehr in der Lage, unseren Bildungsauftrag zu erfüllen“. Die Befunde gelten bundesweit. „Die Situation an Grundschulen ist alarmierend“, warnt Udo Beckmann, Vorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) in Berlin im Gespräch mit AKTIV.

Die Basis der Bildungsrepublik Deutschland, die Grundschule eben, ist also in Schieflage. Da fragt man sich doch: Wie konnte es so weit kommen? Und was heißt das eigentlich für die Zukunfts- chancen der Kinder?

Fast 20 Prozent der Viertklässler können nicht richtig lesen

Ganz offensichtlich nichts Gutes. Denn die jüngste internationale Iglu-Lesestudie bringt Beängstigendes ans Licht: Demnach kann in Deutschland fast jeder fünfte Viertklässler nicht vernünftig lesen! Und wechselt daher schon mit einem fetten Kompetenz-Defizit an die weiterführende Schule. „Es ist davon auszugehen, dass sie dort mit erheblichen Schwierigkeiten beim Lernen in allen Fächern konfrontiert sein werden“, so das ernüchternde Fazit der 57-Länder-Studie.

Und auch der im Auftrag der Kultusministerkonferenz erstellte „Bildungstrend 2016“ lässt Eltern wie Lehrer kreidebleich werden. Demnach haben sich unsere Viertklässler in den vergangenen fünf Jahren auch in Mathe sowie in den Deutsch-Teilbereichen Zuhören und Rechtschreibung verschlechtert. „Die Ergebnisse sind ernüchternd“, bekennt Barbara Eisenmann, Präsidentin der Kultusministerkonferenz.

Mehr zum Thema

Am Ende ist der Lehrer der Sündenbock

Das kann Cornelia Blum bestätigen. „Auch an unserer Schule ist das Niveau deutlich gesunken.“ Die Pädagogin, die eigentlich ganz anders heißt, ihren Namen aus Angst vor Lack aus dem Schulamt aber nicht in der Zeitung lesen möchte, unterrichtet seit über 30 Jahren. Mittlerweile hat sie die vierte Stunde hinter sich gebracht, jetzt ist Pausenaufsicht. Kinder tollen auf dem Hof, Blum steht am Rand und redet sich in Rage.

Klassenarbeiten, die sie vor fünf Jahren noch habe schreiben lassen können, seien jetzt undenkbar. „Die wären viel zu schwierig, die Noten fielen zu schlecht aus.“ Die Konsequenz wären wütende Eltern, am Ende wäre sie als Lehrerin der Sündenbock.

Immer mehr Aufgaben hätten sie und ihre Kollegen zuletzt schultern müssen. Die Inklusion behinderter Kinder in den normalen Unterricht, zuletzt dann die Integration von Flüchtlingskindern. „Drei habe ich in meiner Klasse“, erzählt Blum, alles lernwillige, leistungsbereite Kinder. „Aber sie brauchen deutlich mehr Zuwendung, und die Zeit, die ich mir für sie nehme, fehlt mir dann einfach für die anderen Kinder.“

Kinder mit Migrationshintergrund fallen zurück

Auch für Zuwandererkinder in ihrer Klasse, die in Deutschland aufgewachsen sind. Dabei bräuchte gerade diese Schülergruppe dringend Förderung. So kommt der renommierte Berliner Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration in seinem jüngsten Jahresgutachten zu dem Schluss, dass jene Kinder „nach wie vor bedenklich geringe Bildungserfolge zeigen“. Im Schnitt betrügen die Abstände zwischen Schülern ohne und mit Zuwanderungsgeschichte ein bis zwei Jahre.

An Cornelia Blums Grundschule, mitnichten in einem sozialen Brennpunkt gelegen, beträgt der Anteil von Zuwandererkindern rund 40 Prozent. Und das ist kein Ausreißer nach oben: Laut „Bildungstrend 2016“ ist dieser Wert mittlerweile bei fast jeder vierten deutschen Grundschule erreicht.

„Ich könnte aus vielen dieser Kinder viel mehr rausholen“, sagt Lehrerin Blum. „Aber ohne Unterstützung ist das nicht drin.“ Weil am Ende aber alle Schüler irgendwie über die gleiche Ziellinie bugsiert werden müssten, sinke eben das Niveau. „Und zwar für alle Kinder. Das ist bittere Realität.“

Die Folgen sind wenig erbaulich. VBE-Chef Udo Beckmann: „Was im Grundschulbereich versäumt wird, lässt sich in der späteren Bildungsbiografie kaum noch auffangen.“ Dringend müsse man also an die Ursachen ran: „Wir brauchen sozialpädagogische Fachkräfte, mehr Mittel, um den Spracherwerb zu verbessern.“ Das sieht auch der angesehene Bildungsforscher Horst Weishaupt so. „Es geht hier nicht darum, soziale Wohltaten zu verteilen, sondern dafür zu sorgen, dass diese Gesellschaft langfristig genügend Fachkräfte hat.“

Mehr Quereinsteiger als Notlösung

Vor allem aber braucht man: mehr Lehrer. Aber die gibt es nicht. Laut Erhebung der Landesverbände der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) konnten 2017 rund 2.000 Stellen an Grundschulen nicht besetzt werden.

Die Misere wird sich verschärfen.

Grund: An den Unis werden gerade genug Lehrkräfte ausgebildet, um altersbedingt ausscheidende Kollegen zu ersetzen. Aktuell aber steigen die Schülerzahlen stark an. „Dass Kinder etwa sechs Jahre nach ihrer Geburt eingeschult werden, hat sich wohl nicht bis in die Politik rumgesprochen“, ätzt VBE-Chef Beckmann.

Weil die Bundesregierung zudem auch noch einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Koalitionsvertrag verankert hat, wird die Misere umso größer. „Die bereits heute spürbare Personalnot wird sich in den kommenden Jahren weiter zuspitzen“, so das Fazit der Bertelsmann-Stiftung.

Weil man sich qualifiziertes Personal eben nicht backen kann, greifen die Schulen in ihrer Not schon heute auf Quereinsteiger zurück. Auch an der Schule von Cornelia Blum. „Die Kollegen sind auch engagiert, aber ihnen fehlt pädagogische Qualifikation. Eine echte Hilfe ist das nicht.“ Immerhin: Ihre, wie sie es nennt, „persönliche Dauerfrustration“ wird sich schon in Bälde auflösen. Im kommenden Sommer geht sie in Pension.

Sanierungsstau in Milliardenhöhe

Mieser Zustand: Das hier ist keine Schrottimmobilie.Sondern tatsächlich eine Schule! Foto: dpa
Mieser Zustand: Das hier ist keine Schrottimmobilie.Sondern tatsächlich eine Schule! Foto: dpa
  • Bröckelnder Putz, undichte Fenster – viele allgemeinbildende Schulen sind in jämmerlichem baulichen Zustand. Die staatliche KfW-Bank beziffert den Investitionsrückstau auf etwa 34 Milliarden Euro.
  • Um den steigenden Schülerzahlen zu entsprechen, braucht Deutschland bis 2030 laut Schätzungen der Bertelsmann-Stiftung allein 2.000 neue Grundschulen.
  • Im Jahr 2015 betrugen die jährlichen Ausgaben pro Grundschüler in Deutschland 6.000 Euro. Allerdings bestehen erhebliche Unterschiede zwischen den Bundesländern. Hamburg ließ sich einen Grundschulplatz 9.500 Euro kosten. Mit NRW knauserte aber ausgerechnet das größte Bundesland: nur 5.100 Euro pro Schüler.