Manchmal passt das Wetter zur Stimmung. Es ist ein trüber Herbsttag, als Wigbert Schwenke seinen weißen Hyundai an den Rand einer Schlaglochpiste lenkt. Schwenke, ein kräftiger Mann mit flinken Augen und Schnauzbart, steigt aus und lässt den Blick schweifen: brachliegender Acker, so weit das Auge reicht. Hier, auf diesem fast 600 Fußballfelder großen Areal vor den Toren Magdeburgs, wollte der US-Konzern Intel eigentlich eine neue Megafabrik für Computerchips aus dem Boden stampfen. Als das Vorhaben öffentlich wurde, war man in Magdeburg „on fire“. Tausende Jobs! Milliarden an Fördergeldern! Gewerbesteuern! Weltweite Bekanntheit! Auch Schwenke, Vorsitzender des Stadtrats, sah seine Stadt endlich im Aufwind. Vor Wochen dann die Ernüchterung: Intel, wirtschaftlich stark in Schieflage, legt die Pläne auf Eis, für zwei Jahre zunächst. Seither klammert sich Stadtrat Schwenke ans Prinzip Hoffnung. „Das neue Werk ist ja noch nicht endgültig abgeblasen, also bleibe ich Optimist.“

Andere sind da deutlich zurückhaltender, besonders nach dem Sieg von Donald Trump bei der US-Wahl. „Ich halte es für extrem unwahrscheinlich, dass Intel jetzt noch nach Magdeburg kommt“, ließ sich Reint Gropp, Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle, unlängst zitieren. Tja. Dumm gelaufen in Magdeburg. Und nicht nur da. Auch andernorts wackeln derzeit Großprojekte und Zukunftsinvestitionen bedenklich, von einer weiteren Chipfabrik im Saarland bis zum Batteriewerk im norddeutschen Heide. Irgendwie ist das sinnbildlich – für den Zustand des gesamten Landes.

Die Lage im Land: Hohe Kosten, lähmende Bürokratie, miese Infrastruktur

Deutschland Ende 2024 – das ist ein Land in gefühlter Dauerkrise. Die Ampel-Regierung? Geschichte! Die Industrie schrumpft. Selbst Volkswagen, Symbol deutscher Wirtschaftskraft von einst und größtes Unternehmen unserer Schlüsselbranche, wird wohl Werke schließen müssen.

„Die Alarmglocken sind nicht zu überhören“, warnt Professor Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft. Deutschland sei für Investitionen zu unattraktiv. „Die Standortkosten sind zu hoch. Die Bürokratie lähmt. Die Infrastruktur wird immer schlechter.“ Für die anstehende Transformation zur Klimaneutralität fehle eine Strategie. „Und bei der Frage, wie wir mit den Folgen der demografischen Alterung umgehen, sind wir keinen Schritt weiter.“ 

Klingt nicht gut. Und macht klar: Deutschland, so geht’s einfach nicht weiter. Eigentlich sind sich alle einig: Der Staat muss mehr investieren – in eigentlich alles. Den Städtebau, in Bildung und Forschung und in die klimafreundliche Transformation der Wirtschaft. Doch das allein reicht nicht. Es ist Zeit für einen Weckruf. Zeit, neue Wege zu gehen. Als Volkswirtschaft. Als Gesellschaft. Als ganzes Land. Nur: Wie kriegt man das hin? Wie findet man den richtigen Weg, wenn die Krise so übermächtig erscheint? Vielleicht, indem man sich zuerst einmal bewusst macht, was sie in uns bewirkt!

Draußen ist Krise, und wir verkriechen uns in unser Schneckenhaus

Deshalb: Besuch bei Stephan Grünewald. Der Diplom-Psychologe und Buchautor („Deutschland auf der Couch“) ist Gründer des Marktforschungsinstituts Rheingold in Köln. Sein 50-köpfiges Team führt jedes Jahr Tausende Tiefeninterviews mit Freiwilligen, um mehr über ihre Einstellungen, Sehnsüchte und Ängste zu erfahren. Wer wissen will, wie die Gesellschaft tickt, ist bei ihm richtig.

„Aktuell sind wir Deutschen in einem Zustand gestauter Bewegungsenergie“, erklärt Grünewald. Was das heißt? „Wir kommen nicht ins Handeln, sondern ziehen uns zurück.“ Im Land der maroden Brücken staut es sich offenbar nicht nur auf den Schienen und Straßen. Sondern auch in unserem Innern.

Woran liegt das? Eigentlich gäbe es ja gerade viel zu tun – für den Klimaschutz oder eine sinnvolle Migration. Doch statt von den Herausforderungen motiviert fühlen wir uns wie gelähmt. „Das liegt daran, dass die globalen Krisen inzwischen eine Art Zombie-Qualität erreicht haben“, sagt Grünewald. „Sie werden als unwandelbar erlebt, und das erweckt große Ohnmachtsgefühle.“

Als Reaktion darauf zögen sich die Deutschen gerade ins Private zurück. „Wir spalten unsere Welt in ein Drinnen und Draußen – und machen es uns in unserem Schneckenhaus gemütlich“, erklärt der Psychologe. Was das Private betrifft, sind wir Deutschen sogar zuversichtlich: Stolze 87 Prozent behaupten das von sich in einer aktuellen Rheingold-Studie. Im Hinblick auf Politik und Gesellschaft spüren nur 23 Prozent diesen Optimismus.

„Wir wissen auch gar nicht, wohin wir aufbrechen sollten“ 

Diplom-Psychologe Stephan Grünewald

Aufbruchsstimmung? Aktuell Fehlanzeige, sagt Grünewald. „Wir wissen auch gar nicht, wohin wir aufbrechen sollten. Im Gegenteil: Wir füllen das visionäre Vakuum mit einem Retro-Trend und recyceln Geborgenheitserfahrungen aus früheren Jahrzehnten.“ Die Zeitenwende, die Noch-Kanzler Olaf Scholz vor zwei Jahren ausgerufen hat – für Grünewald gibt es sie nicht: „Die Menschen richten sich eher in einer Art Nachspielzeit ein. Sie hoffen, dass die Zustände, die sie kennen, noch ein paar Wochen oder Monate, vielleicht ein, zwei Jahre so bleiben.“

Transformation: Es braucht mehr Mut vom Staat und von uns allen

Klingt, als hätten wir den Weckruf tatsächlich noch nicht gehört. Da ist es irgendwie ermutigend, auf Menschen wie Fernando Reichert zu treffen. Die Suche nach möglichen Steinchen im Krisen-Lösungs-Mosaik führt aktiv in die beschauliche Kleinstadt Rednitzhembach, eine halbe Stunde Autofahrt von Nürnberg entfernt. Fast versteckt in einem Gewerbegebiet steht eine Werkhalle, Wellblechdach, viel Glas, an einem Maschendrahtzaun das kleine Firmenschild: Nextheat. Gründer Reichert serviert noch schnell Kaffee und Wasser, dann holt er tief Luft und erklärt das Geschäftsmodell seines Start-ups. „Nextheat bietet Wasserstofflösungen für Industrieöfen, mit lokal vor Ort produziertem Wasserstoff aus grünem Strom. Wir sind einzigartig, das macht sonst keiner!“

Rumms, das ist mal selbstbewusst. Aber auch mit Grund. „Für die Glasproduktion, für Stahl, für Dachziegel, für die Herstellung zahlloser Industrieprodukte braucht man Prozesswärme“, erklärt Reichert. Der Bedarf sei gigantisch, etwa 440 Terawattstunden pro Jahr, fast ebenso viel, wie der gesamte deutsche Strommarkt umfasst. „Und unsere Technik ermöglicht, dass Firmen ihre mit Gas betriebenen Öfen weiter nutzen können – emissionsfrei und wirtschaftlich.“ Möglich macht das ein von Nextheat entwickelter Wasserstoffbrenner – und ein Elektrolyseur, mit dem der Wasserstoff vor Ort produziert wird.

Wenn man’s ernst meint mit der Dekarbonisierung der Industrie – na ja, dann müssten Interessenten ja die Bude einrennen, hier draußen im Gewerbegebiet von Rednitzhembach. Problem: Ganz so ist es nicht.

Zwar kassiert Nextheat üppige Fördergelder aus Berlin, heimste Preise ein. Ein Bandstahl-Hersteller aus Iserlohn hat zudem zugeschlagen und lässt auf seinem Werkgelände einen Nextheat-Elektrolyseur bauen. Aber Reichert reicht das nicht. „Ich würde mir mehr Mut wünschen, auch von der Industrie. Wir warten einfach oft zu lange in Deutschland.“ Niemand verlange, dass von heute auf morgen komplett auf Wasserstoff umgestellt werde. „Aber wir sollten einfach mal anfangen.“

Würde Bertram Kawlath das hören, der Präsident des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbauer, würde er vermutlich applaudieren. Denn Kawlath fordert genau das: mehr Mut, von den Firmen, vom Staat, von allen. „Wir müssen raus aus der Verkrustung“, sagt er, „in der Transformation liegt eine riesige Chance, die muss man sehen und ergreifen.“

Nur eines darf man nie, auch bei Gegenwind nicht: den Mut verlieren

 „Wenn Intel nicht kommt, dann gibt es für uns einen Plan B“

Wigbert Schwenke, Lokalpolitiker in Magdeburg

Zurück bei Stadtrat Wigbert Schwenke, auf den Acker vor Magdeburg, auf dem Intel jetzt wohl doch nicht baut. Eigentlich habe die Stadt schon profitiert, sagt er, während unter seinen Schuhen der Matsch schmatzt. Logistikunternehmen hätten sich angesiedelt, auch die Uni habe neue Studiengänge aufgebaut, um Tech-Fachkräfte ausbilden zu können. „Wenn Intel nicht kommt, dann gibt es für uns einen Plan B.“ Wie der aussieht? Schwenke spricht von „hochwertigen Industriearbeitsplätzen“, von „Zukunftsbranchen“. Er sei Optimist, wie gesagt. Nur eines dürfe man nie, auch wenn der Wind eben mal von vorn komme: „Den Mut verlieren!“

Die Krise in Zahlen

  • 600 Milliarden Euro muss Deutschland in den nächsten zehn Jahren in die marode Infrastruktur investieren.
  • 4,8 ist die Schulnote, mit der Deutschlands Firmen die Wirtschaftspolitik der Noch-Bundesregierung bewertet haben.
  • 22 ist der Rang, den Deutschland im World Competitiveness Ranking belegt. Nie waren wir schlechter.
Ulrich Halasz
aktiv-Chefreporter

Nach seiner Ausbildung zum Bankkaufmann studierte Uli Halasz an drei Universitäten Geschichte. Ziel: Reporter. Nach Stationen bei diversen Tageszeitungen, Hörfunk und TV ist er jetzt seit zweieinhalb Dekaden für aktiv im Einsatz – und hat dafür mittlerweile rund 30 Länder besucht. Von den USA über Dubai bis China. Mindestens genauso unermüdlich reist er seinem Lieblingsverein Schalke 04 hinterher. 

Alle Beiträge des Autors
Michael Aust
aktiv-Redakteur

Michael Aust berichtet bei aktiv als Reporter aus Betrieben und schreibt über Wirtschafts- und Verbraucherthemen. Nach seinem Germanistikstudium absolvierte er die Deutsche Journalistenschule, bevor er als Redakteur für den „Kölner Stadt-Anzeiger“ und Mitarbeiter-Magazine diverser Unternehmen arbeitete. Privat spielt er Piano in einer Jazz-Band. 

Alle Beiträge des Autors