Der Blick in die Statistik gehört nicht nur am Anfang eines jeden Jahres zum üblichen Geschäft für Marcus Jacoangeli: Seit 17 Jahren analysiert der Konjunkturexperte beim Gesamtverband textil+mode (t+m) in Berlin alle Zahlen der Branche. Und was er nunmehr im dritten Jahr in Folge erlebt, hat es so vorher noch nicht gegeben: Erfolgs- und Traditionsfirmen gehen am Standort Deutschland reihenweise in die Knie!
Nach zwei Jahren Rezession hatte Jacoangeli für 2025 wieder auf eine bessere Stimmung gehofft. Doch Fehlanzeige: „Von Optimismus keine Spur“, beschreibt der Branchenkenner die aktuelle Situation, in der jetzt die Tarifverhandlungen für die westdeutsche Textil- und Bekleidungsindustrie beginnen. Ein Blick in die Zahlen zeigt das Ausmaß der Misere: So gingen die realen (also inflationsbereinigten) Umsätze bei den Bekleidungsherstellern seit 2019 um 20,1 Prozent zurück. Das Minus bei den Textilunternehmen ist mit 20,9 Prozent noch etwas drastischer.
Fünf Jahre Dauerkrise nagen an den Unternehmen. Viele hatten sich nach dem Einbruch während der Coronapandemie unter großen Mühen wieder an ihre Geschäftsergebnisse vor den Lockdowns herangearbeitet. Inzwischen aber sind viele Zahlen wieder im Minus: Beschäftigung, Produktion im Inland, Export, Auftragsbestände und -eingänge.
Besonders alarmierend: Die Zahl der Betriebe sank noch einmal deutlich – bei Textil um 3,7 Prozent, bei Bekleidung um 7,7 Prozent (Januar bis Oktober 2024 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum). Im vergangenen Jahr meldeten 30 Bekleidungsunternehmen Insolvenz an, 12 mehr als im Jahr zuvor. Bei Textil stieg die Zahl der Insolvenzen von 31 auf 44 Unternehmen. Insgesamt gab es übrigens im vergangenen Jahr laut Wirtschaftsauskunftei Creditreform branchenübergreifend 22.400 Firmenpleiten in Deutschland – so viele wir seit 2015 nicht mehr.
Viele Unternehmen setzen auf Standortverlagerungen
Schon länger beobachtet Experte Jacoangeli, dass Textilhersteller, die hierzulande produzieren, angesichts immer weiter steigender Energie-, Lohn- und Bürokratiekosten am Standort Deutschland nicht mehr so recht wettbewerbsfähig sind. Das bestätigt auch eine Studie des Ifo-Instituts über 15 Industriezweige: Demnach hat die Wettbewerbsposition von Unternehmen aus dem Textilgewerbe in den letzten zwei Jahren am meisten gelitten.

„Es ist schon auffällig, dass die Zahlen der kompletten Aufgabe von Betriebsstätten und auch von Standortverlagerungen bei den Textilunternehmen in Deutschland steigen und steigen“, sagt Jacoangeli. „Gerade von Unternehmen, die neben hohen Personalkosten immer höhere Energiepreise zu schultern haben, hören wir, dass sie keinen anderen Ausweg sehen, als Teile oder ganze Produktionseinheiten an andere Standorte in Europa und die USA zu verlagern.“
Noch zählt die Branche rund 1.400 Unternehmen mit etwa 120.000 Beschäftigten in Deutschland. Doch diese Zahlen werden angesichts der Dauerkrise wohl nicht zu halten sein, wie der Verband befürchtet. Hinzu kommt die Krise der deutschen Autobauer, die die Textil-Industrie als Zulieferer zum Beispiel von Autositzen oder Airbags mit Wucht zu spüren bekommt.
Verband fordert eine Wirtschaftswende
Von der nächsten Bundesregierung verlangt der Gesamtverband deshalb eine Wirtschaftswende: Die Energie- und Klimapolitik brauche eine völlig neue Richtung, da die bisherige Ausrichtung in eine beispiellose De-Industrialisierung führe, heißt es. Ähnliche Grundsatzentscheidungen fordert t+m rund um den europäischen „Green Deal“: Nachhaltigkeit ja – aber nicht in Form von realitätsfernen, überbordenden Regularien und Gesetzgebungen, die die Industrie weiter fesseln.
Während nicht nur diese Branche auf eine Wirtschaftswende nach der vorgezogenen Bundestagswahl hofft, läuft vielen mittelständischen Textilern allmählich die Zeit davon. Ob schon 2025 ein Umschwung gelingen kann, diese Frage bewertet Jacoangeli entsprechend vorsichtig: „Das wird von vielen Faktoren abhängen. Der Ausgang der Bundestagswahl ist mit Sicherheit ein Faktor, aber auch das Ergebnis der Tarifrunde. Mehr denn je ist hier ein Abschluss mit Augenmaß gefragt. Die Tarifpartner tragen angesichts der ernsten wirtschaftlichen Lage eine ganz besondere Verantwortung.“ Wie sie damit umgehen, wird sich am 30. Januar zeigen: Dann findet die erste Verhandlungsrunde statt.

Anja van Marwick-Ebner ist die aktiv-Expertin für die deutsche Textil- und Bekleidungsindustrie. Sie berichtet vor allem aus deren Betrieben sowie über Wirtschafts- und Verbraucherthemen. Nach der Ausbildung zur Steuerfachgehilfin studierte sie VWL und volontierte unter anderem bei der „Deutschen Handwerks Zeitung“. Den Weg von ihrem Wohnort Leverkusen zur aktiv-Redaktion in Köln reitet sie am liebsten auf ihrem Steckenpferd: einem E-Bike.
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