Der Wirtschaft in Niedersachsen geht es nicht gut – auch, weil es in der Auto-Industrie momentan nicht rundläuft. Thorsten Lang, Wirtschaftsforscher am Institut der deutschen Wirtschaft, hat in einer Studie untersucht, was dem Herzen der niedersächsischen Wirtschaft aktuell fehlt und wie ihm zu helfen wäre.

Herr Lang, die Studie „Wirtschaft in Niedersachsen“ von IW Consult ist eine Neuauflage – 2016 gab es schon einmal eine ähnliche Untersuchung. Wenn Sie beide vergleichen: Was hat sich am stärksten verändert?

Der größte Unterschied ist: Damals war die Industrie ein Wachstumsmotor in Niedersachsen. Das ist sie heute nicht mehr. Der Wachstumsmotor stottert, aktuell haben wir in Niedersachsen ein Nullwachstum. Neu ist auch: Lange Zeit ging es bei der Arbeitslosigkeit nur nach unten. Jetzt steigt sie zum ersten Mal wieder an.

Wenn wir über Industrie in Niedersachsen sprechen, meinen wir vor allem die Auto-Industrie. Warum ist Automotive in diesem Bundesland so wichtig?

Das liegt schlicht an der Größe. In Niedersachsen arbeiten von allen Industriebeschäftigten rund 22 Prozent direkt in der Auto-Industrie. Zum Vergleich: In Westdeutschland sind es nur 14 Prozent – obwohl wir mit Bayern und Baden-Württemberg auch sehr starke Autoländer haben. In Niedersachsen stemmt die Auto-Industrie auch 41 Prozent aller Investitionen in der Industrie – in Deutschland sind es knapp 23 Prozent. Oder nehmen wir Forschung und Entwicklung (F&E): In Niedersachsen stammen 56 Prozent aller F&E-Ausgaben aus dem Automotive-Bereich, in Deutschland sind es 42 Prozent. Das heißt: Die Auto-Industrie ist in ganz Deutschland stark in Forschung und Entwicklung, aber in Niedersachsen noch mal stärker.

Wie ist „die Auto-Industrie“ eigentlich definiert? Es geht ja nicht nur um die Hersteller, sondern auch um die vielen Zulieferer und andere Dienstleister.

Man kann die Automobil-Industrie einmal als Branche abgrenzen, da wird das große Zulieferernetz in Niedersachsen natürlich mitgerechnet. In einer anderen Studie haben wir den Bogen noch einmal weiter gespannt, denn die Automobil-Industrie kauft ja auch viele Produkte in weiteren Branchen ein, zum Beispiel in der Kunststoff- oder Elektro-Industrie, aber auch viele Dienstleistungen. Dadurch ist das Wertschöpfungsnetzwerk eigentlich noch viel größer, als die reine Branchenabgrenzung das darstellt.

Es heißt, die Auto-Industrie sei aktuell so stark unter Druck wie nie. Lässt sich das in Zahlen ausdrücken?

Ja klar. Ein Beispiel: 2023 wurden weltweit 7 Millionen Fahrzeuge weniger verkauft als noch 2017 – allein in Europa waren es 2,7 Millionen Fahrzeuge weniger. Zum Vergleich: In Deutschland produzieren wir gut 4 Millionen Fahrzeuge. Ein Einbruch in diesem Maßstab ist also schon eine Größe.

Warum ist die Nachfrage so stark eingebrochen?

Da gibt es verschiedene Gründe. Die Corona-Pandemie und die unterbrochenen Lieferketten haben die Nachfrage und Produktion einbrechen lassen. Ein weiterer Grund ist China: Dort werden einerseits immer mehr Fahrzeuge produziert, im letzten Jahr waren es fast zwei Millionen mehr als 2017. Gleichzeitig ist die Nachfrage in China gesunken. Was machen die chinesischen Hersteller mit ihren mehr produzierten Fahrzeugen? Sie versuchen, sie auf dem Weltmarkt abzusetzen. Das erhöht den Wettbewerbsdruck auf den Weltmärkten deutlich.

Ein anderer Grund ist sicher die schwierige Transformation, die die Unternehmen stemmen müssen und die Verbraucher verunsichert. Wie kommen Deutschland und Niedersachsen hier voran?

Die Transformation ist in vollem Gange. 2023 wurden weltweit 10 Millionen rein batterieelektrisch betriebene Fahrzeuge und knapp 5 Millionen Plug-in-Hybride verkauft. China ist hier der größte Markt. Das Problem bei der Transformation ist, dass sie nicht gut planbar verläuft. Der Verbrenner-Anteil geht nicht kontinuierlich runter und der elektrische nicht sofort rauf. Das wäre wünschenswert, aber so ist es nicht. Im ersten Halbjahr 2024 sind die Neuzulassungen für batterieelektrisch betriebene Fahrzeuge in Deutschland um 16 Prozent eingebrochen.

Warum geht denn gerade bei Stromern – der Zukunftstechnologie, auf die alle Hersteller umstellen wollen – aktuell die Nachfrage in Deutschland zurück?

Zum einen halten sich Käufer zurück, weil es noch nicht ganz klar ist, wie es mit der Technologie weitergeht. Ob die Fahrzeuge der nächsten batterieelektrischen Generation etwa noch mal viel besser werden. Zum anderen liegt es aber auch an den schwankenden Förderbedingungen, die sich quasi über Nacht verändern. Das hat zu erheblichen Einbrüchen bei der Nachfrage beigetragen, und mit denen müssen die Unternehmen jetzt umgehen. Zusätzlich entsteht innerhalb der Transformation gerade ein enormer Kostendruck und dadurch die reale Gefahr, dass es bei der erforderlichen Neuausrichtung der Wertschöpfungsketten zu Verlagerungen der Produktion kommt. Denn Deutschland ist ein Hochkosten-Standort. Da kann es passieren, dass Aufträge an Zulieferer ins Ausland gehen.

Nun sind die Kosten in Deutschland ja nicht erst seit gestern sehr hoch …

Aber durch das Aus der Verbrenner-Technologie gehen dem Standort Wettbewerbsvorteile verloren. Die haben es den Unternehmen in der Vergangenheit erst erlaubt, die höheren Kosten zu stemmen. Jetzt müssen neue erarbeitet werden, damit dies auch in Zukunft gelingt. Da ist schon ordentlich Druck auf dem Kessel.

Um Druck rauszunehmen, plädiert Ihre Studie für eine Technologieoffenheit beim Antrieb. Aber widerspricht das nicht der selbstverordneten Strategie vieler Hersteller, sich langfristig auf batterieelektrische Fahrzeuge zu konzentrieren?

Sie sagen es: Das ist eine langfristige Strategie. Aber dazu gehören ja schon heute als Übergangsschritt auch die Plug-in-Hybride – bei denen die Nachfrage übrigens zuletzt in China erheblich angestiegen ist. Zudem können die Klimaziele auch mit anderen Technologien als den batterieelektrischen Fahrzeugen erreicht werden, wie zum Beispiel mit E-Fuels. Alle Technologien haben ihre spezifischen Vor- und Nachteile, aber alle tragen zu den Klimazielen bei.

Wir reden über einen massiven technologischen Wandel. Worauf kommt es dabei aus wissenschaftlicher Sicht an?

Vor allem darauf, die Sicht der Verbraucher nicht aus den Augen zu verlieren. Die interessiert vor allem, welche Vorteile ihnen eine neue Technologie bietet. Zudem gilt bei jedem technologischen Wandel der Grundsatz: So viel Technologiespezifität wie nötig, aber auch so viel Technologieneutralität wie möglich. Niemand weiß ja im Vorfeld genau, welche Technologie den meisten Vorteil bringt und sich am Ende durchsetzt. Das spricht dafür, auch Alternativen zuzulassen, sodass sich aus dem Zusammenspiel von Industrie und Verbrauchern am Ende vielleicht ein Mix an Technologien durchsetzt, mit denen sich die Klimaziele bestmöglich erreichen lassen.

Welche Empfehlungen kann die Politik aus der Studie ziehen: Wie kann sie der Auto-Industrie wieder auf die Beine helfen?

Bei der Unterstützung der Transformation wird gerade in Niedersachsen schon viel getan, etwa mit der Transformationsagentur. Wichtiger wäre aus unserer Sicht eine stärkere Technologieoffenheit der Politik. Und eine stärkere Entlastung der Industrie beim Thema Kosten. Deutschland liegt bei Steuern und Abgaben im internationalen Vergleich auf einem Spitzenplatz. Auch die Bürokratiekosten und Lohnnebenkosten sind höher als in anderen Ländern. Hier gibt es politisch noch viele Möglichkeiten, die Transformation zu unterstützen.

Michael Aust
aktiv-Redakteur

Michael Aust berichtet bei aktiv als Reporter aus Betrieben und schreibt über Wirtschafts- und Verbraucherthemen. Nach seinem Germanistikstudium absolvierte er die Deutsche Journalistenschule, bevor er als Redakteur für den „Kölner Stadt-Anzeiger“ und Mitarbeiter-Magazine diverser Unternehmen arbeitete. Privat spielt er Piano in einer Jazz-Band. 

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