Auf den ersten Blick steht Niedersachsen gut da: 8,16 Millionen Einwohner, 4,2 Millionen Erwerbstätige, knapp 3,9 Millionen Arbeitnehmer – mehr waren es nie seit Bestehen des Landes. Auf den zweiten Blick geht es der Wirtschaft – trotz dieser Rekordzahlen – überhaupt nicht gut. Das zeigt eine von NiedersachsenMetall beauftragte Untersuchung.
270 heimische Firmen wurden befragt
Die von IW Consult, einer Tochter des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln, erstellte repräsentative Studie hat nicht nur den Industriestandort unter die Lupe genommen. Die Forschenden befragten auch etwa 270 heimische Industrieunternehmen: Wie steht es um ihre Wettbewerbsfähigkeit, um Investitionen und Zukunftsperspektiven? Schon die Rahmendaten, die die Studie zusammenträgt, sind beunruhigend: So tritt das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf in Niedersachsen auf der Stelle, weil die Industrie schwächelt. Während das Land im Zeitraum von 2016 bis 2023 ein Nullwachstum verzeichnete, stieg das BIP je Einwohner pro Jahr in ganz Deutschland um 0,4 Prozent.
„Die hohe Kostenbelastung und der Fachkräftemangel sind zwei der größten Investitionshemmnisse.“
Professor Michael Hüther, IW-Direktor
Auch bei den Investitionen zeigt der Trend nach unten: Im Nach-Corona-Jahr 2022 lagen sie in Niedersachsen ganze 9 Prozent niedriger als im Vorkrisenjahr 2019. Seither verharren sie auf niedrigem Niveau. 35 Prozent der befragten niedersächsischen Industrieunternehmen geben an, seit 2023 nicht mehr zu investieren oder die Investitionen nicht erhöhen zu wollen. „Die hohe Kostenbelastung und der Fachkräftemangel sind zwei der größten Investitionshemmnisse“, sagt IW-Direktor Professor Michael Hüther bei der Vorstellung der Studie in Hannover.
Wandert ein Betrieb ab, trifft das viele Zulieferer
Investitionen im Ausland werden für Unternehmen dagegen attraktiver. So wollen laut Studie 56 Prozent der Befragten ihre Investitionen dort erhöhen. Durch diese Verlagerung drohen der heimischen Wirtschaft massive Probleme: Denn wandern wichtige Abnehmer ab, hat das in der Regel Auswirkungen auf die Zulieferer. Unterm Strich kommt die IW-Studie zu dem Schluss: Wenn die Politik nicht entschieden gegensteuert, wird die schleichende De-Industrialisierung des Standorts Fahrt aufnehmen. Speziell für die Automobil-Industrie müssen schnell Lösungen gefunden werden. Als bedeutendster Wirtschaftszweig des Landes stellt sie knapp 22 Prozent aller Industrie-Arbeitsplätze und stemmt fast die Hälfte aller Investitionen.
Was jetzt zu tun ist
- Standortfaktoren verbessern: Hohe Standortkosten wie Steuern und Abgaben müssen runter, denn sie bremsen Investitionen.
- Für wettbewerbsfähige Energiekosten sorgen: Betriebe zahlen in Niedersachsen viel für Strom und Gas. Zwar profitieren energieintensive Unternehmen von der sogenannten Strompreiskompensation, allerdings nur bis 2028. Solche Entlastungen sollten verstetigt werden.
- Fachkräfte sichern: Das Fachkräfte-Einwanderungsgesetz allein reicht nicht aus, um die Lücke zu schließen. Was es dringend braucht: Werbung für MINT-Fächer (Mathe, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) in den Schulen.
- Forschung und Entwicklung (FuE) stärken: Für Unternehmen ist es kompliziert, die steuerliche FuE-Förderung des Bundes zu beantragen. Hier braucht es weniger Bürokratie.
- Technologieoffenheit statt Marktregulierung: Die Technologieauswahl, mit der die Klimaziele im Mobilitätssektor erreicht werden können, sollten der Industrie und dem Markt überlassen werden.
„Vorboten eines sinkenden Wohlstands“
Dr. Volker Schmidt, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands NiedersachsenMetall, zur Situation der Wirtschaft in Niedersachsen:
Unser Bundesland hat ein echtes Wachstumsproblem, die Entwicklung ist alarmierend. Während Niedersachsen zwischen 2000 und 2016 noch deutlich stärker wuchs als die anderen westdeutschen Flächenländer, ist die Entwicklung seither gekippt: Seit nunmehr acht Jahren laufen wir dem Bundestrend hinterher. Und mit jedem weiteren Jahr Nullwachstum droht der Abstand zum übrigen Bundesgebiet größer zu werden.
In kaum einem anderen Bundesland hat die Industrie eine so hohe Bedeutung für die gesamte Wertschöpfung wie in Niedersachsen. Aber auch sie wird von den deutschen Standortschwächen heruntergezogen: Keine konkurrenzfähigen Energiekosten, zu hohe Steuern und Abgaben, Arbeitskosten, die durch die Produktivität nicht mehr gedeckt sind und ein Übermaß an Bürokratie. Dies wirkt unmittelbar auf die Investitionsneigung. Das ist gefährlich, denn rückläufige Investitionen sind immer Vorboten eines sinkenden Wohlstands.
Die Umsätze in der Auto-Industrie müssen deutlich gesteigert werden. Steigende Gewinne bedeuten mehr Investitionen in den Standort Niedersachsen. Wir brauchen die starken Umsätze im Verbrennergeschäft, auch, um überhaupt weiter in die E-Mobilität investieren zu können.
Weil Hersteller und Zulieferer den politischen Vorgaben folgend zuletzt massiv in die Elektrifizierung investiert haben, E-Fahrzeuge aber von großen Teilen der Kundschaft derzeit abgelehnt werden, sitzen sie jetzt auf massiven Überkapazitäten. Die Fixkosten gehen bei vielen Unternehmen durch Decke, was die Verlagerung von Produktion in das kostengünstigere Ausland geradewegs erzwingt, um zu überleben.
Werner Fricke kennt die niedersächsische Metall- und Elektro-Industrie aus dem Effeff. Denn nach seiner Tätigkeit als Journalist in Hannover wechselte er als Leiter der Geschäftsstelle zum Arbeitgeberverband NiedersachsenMetall. So schreibt er für aktiv über norddeutsche Betriebe und deren Mitarbeiter. Als Fan von Hannover 96 erlebt er in seiner Freizeit Höhen und Tiefen.
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