Köln/Berlin. Eine riesige, helle Werkhalle am Rand der rheinischen Stadt Hürth: Hier steht ein 100 Meter langer Maschinenkoloss, sirrt und kreischt. Walzen rotieren, jagen ein 8 Meter breites Band voran, spucken 2.000 Meter Zeitungspapier pro Minute auf Rollen. Europas modernste Fabrik schafft Tempo 120, das macht 2.880 Kilometer Papierband an einem Tag.
Das Werk zwischen Köln und Bonn produziert mit Branchen-Bestmarken, zugleich schreibt der finnische Eigner UPM Umwelt- und Klimaschutz ganz groß. Ausgangsstoff ist zu 100 Prozent Altpapier. „Seit dem Bau im Jahr 2002 haben wir den Verbrauch von Wasser um 60 Prozent und den von Strom um 30 Prozent gesenkt“, sagt Standort-Manager Armin Schmidt. „Aber jetzt laufen wir gegen einen Grenzwert.“ Noch mehr Energieeinsparung würde Investitionen erfordern, deren Wirtschaftlichkeit „immer schwieriger zu rechnen ist“.
UPM begreift sich als Vorreiter beim Klimaschutz. Und doch macht das Beispiel der Fabrik deutlich, warum der Klimaschutzplan 2050 von Umweltministerin Barbara Hendricks der Industrie Sorgen macht: Die Technik ist in vielen Fabriken weit ausgereizt; große Sprünge bei Effizienz und Energieeinsparung sind in den meisten Fällen kaum noch drin.
Doch gibt Hendricks Plan tonnengenau vor, wie Deutschland seine Ziele für das Pariser Klimaabkommen erreichen will und was Kraftwerke, Verkehr, Häuser, Landwirte und Betriebe dazu beitragen sollen. Von der Industrie fordert der 92-Seiten-Wälzer in der ersten Stufe bis 2030 eine Verringerung des Kohlendioxid-Ausstoßes um 40 Millionen auf 140 Millionen Tonnen. Das ist ein Minus von über einem Fünftel in lediglich 13 Jahren.
Zum Vergleich: Im Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung reduzierten die Betriebe die Emissionen um 36 Prozent – dazu trug aber stark die Modernisierung der ostdeutschen Industrie bei.
Deutschland prescht vor, die USA klinken sich aus
Beim Industrieverband BDI schrillen wegen des Plans die Alarmglocken. „Die Politik kann heute nicht tonnenscharf auf Jahrzehnte bestimmen, welche Sektoren wie viel Kohlendioxid mit welchen Technologien am besten reduzieren sollten. Das ist dirigistisch“, kritisiert Carsten Rolle, Abteilungsleiter Energie- und Klimapolitik beim BDI. „Klimaschutz muss ambitioniert, aber technologisch und ökonomisch machbar sein. Die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen darf dabei nicht gefährdet werden.“
Rolle fordert daher: „Deutschland, Industrie- und Schwellenländer müssen einigermaßen vergleichbar vorangehen.“ Sonst würden auf die Dauer Betriebe und Jobs hierzulande gefährdet.
Schon heute hat die deutsche Volkswirtschaft beim Energieverbrauch pro 1.000 Dollar Bruttosozialprodukt mit umgerechnet 0,084 Tonnen Öl-Äquivalent eine Spitzenposition, wie Zahlen der Internationalen Energie-Agentur für 2014 zeigen. Die USA benötigen das 1,6-Fache dieser statistischen Größe an Energie, China und Indien mehr als das Vierfache und Russland das Fünffache. China und Indien wollen zwar beim Klimagas-Ausstoß bremsen, doch ihre Emissionen werden weiter steigen. Und die USA wollen sich ganz ausklinken.
Die Industrie hierzulande nutzt Energie sogar noch effizienter als die Wirtschaft insgesamt. Ob Raffinerie, Chemie- oder Stahlwerk, Alu-Hütte oder Glashersteller – kontinuierlich drehen sie wie der Papierhersteller UPM in Hürth an Stellschrauben. Das Ziel: Prozesse noch geschickter fahren, Wärme besser nutzen, Motoren, Pumpen und Kühlaggregate einsparen. Doch die Fortschritte werden schwieriger. Hier einige Beispiele:
- Stahl-Industrie. Die Unternehmen suchen händeringend nach Wegen, Energieverbrauch und Klimagasausstoß zu verringern. Von 1990 bis 2014 haben sie ihre Emissionen bereits um 19 Prozent reduziert. Bis 2050 sind jedoch nur noch weitere 10 Prozent Absenkung drin. Das hat eine Studie der Boston Consulting Group für Europas Stahlfirmen ermittelt. Zu wenig für den Klimaschutzplan. Denn es gibt technische Grenzen für die Verringerung der Emissionen: Das Kohlendioxid entsteht unvermeidlich beim Prozess der Stahlerzeugung. Und deutsche Hochöfen arbeiten schon jetzt nah am technischen Optimum. Das stellt die Branche (85.000 Beschäftigte) vor ein grundlegendes Dilemma. Weil klimagasfreie Stahlerzeugung nicht geht, haben sich kürzlich zehn Konzerne um Hersteller Thyssenkrupp sowie sieben Institute und Unis zusammengetan, um eine Lösung zu finden. Sie wollen ein Verfahren entwickeln, mit dem aus den Abgasen der Hochöfen Vorprodukte für Kraftstoffe, Kunststoffe oder Dünger hergestellt werden können. In einer ersten Stufe des Projekts „Carbon2Chem“ investieren die 17 Partner samt Zuschüssen der Bundesregierung 160 Millionen Euro, um in Duisburg ein Technikum für Versuche zu errichten. Bis zur Marktreife rechnen Experten mit 10 bis 15 Jahren Entwicklungszeit sowie 1 Milliarde Euro an Kosten für den Bau einer großtechnischen Anlage.
- Nichteisen-Metall-Industrie. Auch die Hersteller von Aluminium, Kupfer oder Zink, die häufig mit Strom die Metalle gewinnen, ringen um eine effizientere Produktion. Zwischen 1995 und 2010 hat die Branche (110.000 Beschäftigte) den Stromverbrauch pro Tonne Produkt um ein Fünftel auf 3,4 Megawattstunden gesenkt. Dazu trugen Verfahrensverbesserungen bei sowie ein steigender Anteil von Recyclingmetall als Ausgangsmaterial der Herstellung, was weniger Energie erfordert. Seitdem wurde wieder mehr Aluminium aus dem Rohstoff Bauxit erzeugt; deshalb ist der Stromverbrauch je Tonne wieder etwas angestiegen. Große Spielräume zum Energiesparen sehen Experten nicht. Pro Tonne Metall seien jährlich 0,25 Prozent Effizienzverbesserung drin, heißt es beim Branchenverband WV Metalle in Berlin.
- Papier-Industrie. Nicht nur die Fabrik in Hürth hat den Energieverbrauch optimiert. Die Branche insgesamt (40.000 Beschäftigte) verringerte von 1995 bis 2016 ihren Klimagas-Ausstoß je Tonne Produkt um ein Drittel auf 642 Kilogramm. Nun stößt die Verbesserung zunehmend an technische Grenzen.
Viele Firmen dieser Branchen unterliegen zudem dem europäischen System für den Klimaschutz, dem Emissionshandel. Damit steuert die EU über das Zuteilen und Verkaufen von Erlaubnisrechten die Verringerung des Klimagasausstoßes in Kraftwerken, Betrieben und bei Fliegern. Zusätzliche nationale Regelungen für diese Branchen lehnt Energieexperte Rolle vom Industrieverband BDI ab.
Für jede Klima-Maßnahme Folgekosten abschätzen
Doch wie stehen die Chancen in Sachen Energiesparen und Klimagasminderung bei „normalen“ Durchschnittsfirmen? Damit kennen sich die Ingenieure und Techniker der ECG Energie Consulting in Kehl bei Straßburg aus, die Betriebe beim Energiesparen beraten. „Viele Firmen sind schon heute energetisch viel besser aufgestellt, als die Politik glaubt“, sagt Geschäftsführer Wolfgang Hahn. „Solche Betriebe haben in Energiemanagementsysteme und ähnliche Maßnahmen investiert und damit im Schnitt 8 Prozent Energie eingespart.“ Das lasse sich in dieser Größenordnung aber nicht so einfach wiederholen. Die Vorgaben des Klimaschutzplans hält Hahn daher für „sehr ambitioniert“.
Beim Energiesparen „hängen die Früchte nunmehr hoch“, bestätigt Rainer Häring, Energie-Manager für Westeuropa beim Konzern UPM. Das Unternehmen plant damit, dass die Bundesregierung ihre Ökostrom-Ziele umsetzt. „Wenn das verarbeitende Gewerbe die Produktion und Wärmeerzeugung, wie derzeit politisch gewollt, weitgehend elektrifizieren soll, braucht es dafür bezahlbaren sauberen Strom.“
Bei der UPM-Fabrik in Hürth hat der finnische Konzern durch einen Anbieterwechsel nachgeholfen. Seit Anfang 2016 bezieht der Komplex den Strom aus dem Netz, nicht mehr vom direkt danebenstehenden Braunkohlen-Block des Energieversorgers RWE. Häring: „Deshalb fällt die CO2-Bilanz in Hürth nun etwas besser aus.“ RWE liefert aktuell nur noch Dampf. Das soll sich bald ändern; ein Investor will ein Biomasseheizkraftwerk aus Finnland nach Hürth umsetzen.
Für Stahl-, Alu- oder Chemiewerke ist das jedoch keine Lösung. Deshalb warnt BDI-Energieexperte Rolle: „Die Regierung kann nicht einfach Minderungsziele vorschreiben, ohne deren Auswirkungen zu kennen.“ Damit eine technologieoffene, faktenbasierte Debatte möglich wird, will der BDI nun zusammen mit seinen Mitgliedsverbänden ermitteln, welche Potenziale es gibt und wie diese ausgereizt werden können.
„Wir stehen zum Klimaschutz und zum Einsatz neuer Technologien“, sagt Rolle. „Aber wir müssen wissen, wie diese Technologien marktgängig werden können. Dazu braucht es eine ehrliche Abschätzung der Kosten.“ Und vor allem müsse ein so weitreichender Plan vom Bundestag beschlossen werden.