Sie habe leider noch etwas Jetlag, sagt Professorin Verena Wolf entschuldigend, als aktiv sie am Telefon in Saarbrücken erreicht. Vor ein paar Tagen sei sie von einer Familienreise nach Kuba zurückgekehrt – und die Zeitverschiebung mache ihr immer noch zu schaffen. Wie das neue Zeitalter der künstlichen Intelligenz (KI) den Unternehmen und den Mitarbeitern zu schaffen macht, das kann Wolf in ihrem Job an der Universität des Saarlandes hautnah beobachten: Die preisgekrönte Informatikerin forscht nicht nur nach neuen KI-Tools – sie hilft auch der Industrie bei ihrer Umsetzung in der Produktion.

Frau Professor Wolf, bei KI-Forschung denkt man automatisch an Kalifornien. Was tut sich in Saarbrücken in Sachen KI?

Sehr viel! Der Informatikstandort an der Universität des Saarlandes gehört zu den forschungsstärksten in Europa. Und da KI in der Informatik immer wichtiger wird, entsteht hier viel Grundlagenforschung zum Thema. In meinem Forschungsbereich geht es sogar ausschließlich um KI: Als Teil des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI) kümmern wir uns darum, die Erkenntnisse der Forschung in die Anwendung zu bringen – also in die Werkhalle.

Seit dem Erscheinen von ChatGPT redet gefühlt jeder über KI. Spürt man diesen Hype auch in der Wissenschaft?

KI ist auch in der Informatik inzwischen überall. Fast alle Vorlesungen haben heute einen KI-Anteil. Der öffentliche Hype liegt am Erfolg der sogenannten Large Language Models wie eben ChatGPT. Dabei wird schnell übersehen, dass die datengestützte KI nicht nur im Bereich der Sprache riesige Fortschritte gemacht hat. Sondern auch bei der Bildverarbeitung und in vielen anderen Bereichen, in denen es gute Trainingsdaten gibt.

Mal für einen Laien wie mich erklärt: Wie arbeitet eine KI eigentlich genau?

Da muss man differenzieren, es gibt mehrere Arten von KI. Wovon wir heute oft sprechen, ist die datenbasierte KI: Dabei wird ein KI-Modell, etwa ein künstliches neuronales Netz, mit großen Datenmengen trainiert. Ein künstliches neuronales Netz ist im Grunde ein Computerprogramm, das so geschrieben ist, dass es wie ein vereinfachtes Modell des menschlichen Gehirns funktioniert. Es verarbeitet Daten und lernt dabei Regeln, die der Computer aus vielen Beispielen selbst erstellt.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Zum Beispiel füttert man das KI-Modell mit Bildern, die Hunde und Katzen zeigen. Und stellt ihm die Aufgabe, herauszufinden, auf welchen Fotos Katzen zu sehen sind. Das ist für den Computer ziemlich schwierig: Er hat ja als Input nur Pixel mit den verschiedenen Grauwerten und muss daraus Muster erkennen wie beispielsweise die typische Form eines Katzenohrs. Dafür braucht es so viele Daten, damit die Mustererkennung am Ende gut klappt. Neben der datenbasierten KI gibt es auch die symbolische KI, die seit den Anfängen der KI eingesetzt wird und heute noch in einigen Bereichen relevant ist.

Wie funktioniert die?

Dabei gibt man dem Computer Regeln und Fakten vor, aus denen er dann eigenständig Schlussfolgerungen zieht. Ein Beispiel dafür sind Systeme, die etwa Diagnosen unterstützen, indem sie auf einer Wissensbasis aus medizinischen Fakten logische Schlussfolgerungen ableiten.

Welche Form von KI ist die erfolgreichere?

Heute, wo wir bei der Mustererkennung so viel weiter sind als früher, zeigt die datengetriebene KI oft sehr gute Erfolge. Und zwar immer dann, wenn ich extrem viele Daten habe, mit denen ich das System trainieren kann. Das Problem ist nur: Nicht in allen Bereichen gibt es so viele Trainingsdaten wie bei der Text- oder Bilderkennung. Für den Einsatz in der Industrie etwa helfen neuronale Netze deshalb oft nur begrenzt weiter.

Was ist dann zu tun?

Dann versucht man, die datenzentrierte mit der regelbasierten KI zu verbinden und Wissen in den Prozess der Mustererkennung einzuspeisen. Zum Beispiel können wir dem Computer das Wissen mitgeben, dass Katzenohren eine bestimmte Form haben. Aber wie kann ich einem neuronalen Netz solche Regeln mitteilen? Das ist genau das, womit wir uns in meinem Forschungsbereich befassen.

Gehen wir mal aus der Uni in die Werkhalle: Wie könnten KI-Prozesse zum Beispiel in der Metall- und Elektro-Industrie helfen?

In der Industrie kann KI vor allem dabei helfen, Abläufe in der Produktion zu optimieren, zum Beispiel die Reihenfolge der Arbeitsschritte. Sie kann auch Vorhersagen für den Materialverbrauch machen oder automatisiert Fehler erkennen – da gibt es vielfältige Einsatzmöglichkeiten.

Was kann eine KI besser als ein Mensch?

Nehmen wir den Umgang mit Unsicherheiten: Wenn es etwa in der Lieferkette Unsicherheiten gibt, kann eine KI oft schneller und objektiver reagieren als ein Mensch. Mit einer KI kann man solche Situationen simulieren und ihr beibringen, auch in stressigen Momenten passende Entscheidungen zu treffen. Hinzu kommt, dass man als Mensch Komplexität nur bis zu einem gewissen Grad überblicken kann. Der KI dagegen macht Komplexität nichts aus.

„Der Computer kann das besser als du“ – das hört man als Mitarbeiter natürlich ungern.

Das stimmt. Und diese natürliche Reaktion haben wir tatsächlich unterschätzt, als es in die Praxis ging. Anfangs waren wir da fast ein bisschen naiv. Wir dachten: Jetzt bringen wir den Leuten eine tolle KI, die ihnen die optimale Reihenfolge der Arbeitsschritte in der Automobilproduktion vorgibt. Das setzen wir im Werk um – und dann läuft alles sofort besser …

War aber nicht so?

Wir mussten feststellen, dass wir die Rechnung ohne die Beschäftigten im Werk gemacht hatten. Und ohne den Menschen ist eine KI nichts wert. Wir können Mitarbeitern nicht einfach eine Blackbox vorsetzen und sagen: Die trifft jetzt für euch optimale Entscheidungen – vertraut der mal! So funktioniert es nicht.

Was braucht es also, um KI-Prozesse in der Produktion zu etablieren?

Es braucht spezielle KI-Methoden, die Entscheidungen nachvollziehbar machen. Nur so kann man das Vertrauen der Menschen gewinnen. Eine KI arbeitet ja nie komplett allein: Die Maschine macht einen Vorschlag, aber der Mensch entscheidet. Dafür muss sie ihm erklären, wie sie zu ihren Empfehlungen gekommen ist.

„Einer KI kann man beibringen, auch in stressigen Momenten gute Entscheidungen zu treffen.

Verena Wolf

Wie kann eine KI sich dem Menschen erklären?

Zum Beispiel durch eine Vorwärtssimulation an einem digitalen Zwilling: Da kann man durchspielen, wohin welche Entscheidung führt. Oder die KI legt die Muster offen, durch die sie zu ihrer Lösung gekommen ist. In der Fachsprache nennen wir solche Methoden „Explainable AI“, also erklärbare KI. Dieser Bereich ist in den vergangenen Jahren immer wichtiger geworden.

Weil Mensch und Maschine lernen müssen, zusammenzuarbeiten?

Genau. Und deswegen müssen Mitarbeiter auch keine Angst haben, dass die KI ihren Job übernimmt: Ein Tool ersetzt keine Beschäftigten. Aber die müssen eben schon lernen, damit zu arbeiten.

Ein Problem ist, dass allerorten IT-Fachkräfte fehlen, auch in Sachen KI. Hilft es, wenn sich Mitarbeiter weiterbilden?

Auf jeden Fall! Das sollten nicht nur Beschäftigte tun, sondern jeder und jede. Denn wir alle nutzen täglich KI – sie steckt in jedem Handy. Wenn man aber keine Idee davon hat, wie solche Tools funktionieren, kann man nicht einschätzen, wo ihre Potenziale und wo ihre Grenzen liegen.

Zur Person

  • Professorin Verena Wolf hat einen Lehrstuhl für Informatik an der Universität des Saarlandes.
  • Geboren 1979, studierte sie in Bonn Informatik.
  • Ihren Doktor machte sie 2008 an der Uni Mannheim, seit 2012 ist sie Professorin in Saarbrücken.
  • Seit 2023 leitet Wolf im Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz in Saarbrücken den Bereich Neuro-mechanistische Modellierung.

Pflichtfach Informatik

Seit dem Schuljahr 2023/24 ist Informatik im Saarland Pflichtfach für alle Schülerinnen und Schüler ab Klasse sieben. Mit auf den Weg gebracht hat das: Verena Wolf. „Ich habe schon 2016 bei Politikern für ein Pflichtfach Informatik geworben“, sagt die Professorin über ihr Engagement.

Um genügend Lehrkräfte für den neuen Pflichtunterricht zu bekommen, wurde unter Wolfs Leitung an der Uni des Saarlandes eine Fortbildung für Lehrer aus anderen Fächern entwickelt. Außerdem arbeitete ihr Team an den Lehrplänen mit – und brachte etwa KI-Inhalte ein. „Im neuen Lehrplan gibt es jetzt von der siebten bis zur zehnten Klasse Lehreinheiten zum Thema künstliche Intelligenz“, sagt Wolf. „Da sind wir im Saarland zusammen mit Ländern wie Bayern Vorreiter.“

Michael Aust
aktiv-Redakteur

Michael Aust berichtet bei aktiv als Reporter aus Betrieben und schreibt über Wirtschafts- und Verbraucherthemen. Nach seinem Germanistikstudium absolvierte er die Deutsche Journalistenschule, bevor er als Redakteur für den „Kölner Stadt-Anzeiger“ und Mitarbeiter-Magazine diverser Unternehmen arbeitete. Privat spielt er Piano in einer Jazz-Band. 

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