Immer mehr künstliche Intelligenz (KI) hält Einzug in die Arbeitswelt. Viele Beschäftigte unterschätzen den Einfluss der neuen Technologie auf ihren Job, so eine aktuelle Studie des TÜV-Verbands in Berlin: Demnach glauben fast drei von vier Befragten, dass ihre berufliche Tätigkeit nicht durch KI ersetzbar sei. Wo solche Systeme überall eingesetzt werden können und welchen Einfluss sie auf die Arbeitswelt nehmen, erklärt Professorin Verena Nitsch, Direktorin des Instituts für Arbeitswissenschaft (IAW) der RWTH Aachen.

Frau Professorin Nitsch, bei welchen Tätigkeiten ist es am wahrscheinlichsten, dass KI-Anwendungen sie in Zukunft übernehmen?

Das ist nicht einfach zu beantworten, weil sich die Technologie gerade sehr rasant weiterentwickelt. Derzeit ist es so, dass ChatGPT und ähnliche Anwendungen verstärkt kreative Tätigkeiten und die Automation von Wissensarbeit übernehmen. Das gab es in der Form noch nicht. Konkret kann KI in der Produktionsteuerung und Qualitätssicherung eingesetzt werden, aber auch in unterstützenden Prozessen wie der Rechnungslegung und in der Werbung. In Callcentern können Chatbots schon heute Gespräche mit Kunden führen, die viel natürlicher sind, als man das vielleicht aus der Vergangenheit kennt! Viele Unternehmen arbeiten mittlerweile auch an KI-Systemen, die das Wissen und die Fähigkeiten erfahrener Mitarbeiter nutzen, um etwa Fehler in der Produktion oder Maschinenzustände zu erfassen und auszuwerten.

Das sind eine Menge Anwendungsmöglichkeiten …

Stimmt. Die Entwicklung wird auch dadurch beschleunigt, dass rund zwei Drittel der Beschäftigten in Deutschland mit Computern arbeiten. Zum Beispiel in Verwaltung und Organisation, aber auch in Entwicklung und Produktion. Man kann davon ausgehen, dass jeder, der so arbeitet, zeitnah mit KI-Anwendungen in Kontakt kommt, weil diese Technologie überall und in jeder Branche Einzug halten wird.

Müssen sich Beschäftigte deshalb Sorgen um ihren Job machen?

Blickt man in die Vergangenheit, haben ähnliche Umbrüche wie etwa die Automatisierung oder der Einzug der Robotik in die Fertigung immer Tätigkeiten wegfallen lassen. Es sind dadurch aber auch immer neue Tätigkeiten entstanden. Etwa weil Unternehmen innovativer und produktiver wurden und daraus neue Arbeitsplätze erwuchsen. Hinzu kommt: KI-gesteuerte Anwendungen müssen ja auch gewartet, kontrolliert und ausgebaut werden. Auch dafür braucht es Menschen.

Also alles gar nicht so schlimm?

Von schlimm würde ich in dem Zusammenhang nicht sprechen. Es wird natürlich Veränderungen geben, die die Beschäftigten auch spüren werden. Neu ist, dass davon besonders auch Höherqualifizierte betroffen sein werden.

Was heißt das konkret?

In der Vergangenheit ging es oft um die Automation manueller Routinearbeiten. Das hat höher qualifizierte Personen zumeist weniger betroffen. Die jetzt entwickelten generativen KI-Anwendungen können auch komplexe Aufgaben wie etwa Planungsaufgaben von Ingenieuren und sogar Führungsaufgaben übernehmen. Das bringt für Unternehmen einen wirtschaftlichen Anreiz, auch für solche Aufgaben KI einzusetzen – menschliche Expertise ist teuer. Viele Unternehmen werden in den neuen Anwendungen auch eine Möglichkeit sehen, fehlende Fachkräfte zu ersetzen.

Heißt das: In Zukunft wird KI gezielt eingesetzt, um Mitarbeiter zu ersetzen?

Leider konzentriert sich die Diskussion um KI oft genau auf diese Frage. Allerdings zeigen einige Untersuchungen, etwa der International Labour Organization, dass viel mehr Jobs durch KI unterstützt werden, als durch ihren Einsatz wegfallen. Das heißt: Der Einsatz von KI-Systemen bietet ein großes Potenzial, um Arbeit zu erleichtern. So sehen das auch viele Mitarbeitende. Umfragen deuten darauf hin, dass Unternehmensverantwortliche oftmals unterschätzen, wie viele Personen in ihren Unternehmen tatsächlich KI-Systeme für ihre Arbeit nutzen. Es scheint jetzt schon so zu sein, dass viele Mitarbeitende von sich aus nach KI-Anwendungen suchen und diese nutzen, um sich die Arbeit zu erleichtern.

Wenn KI viele Tätigkeiten erleichtert, können Beschäftigte theoretisch in derselben Zeit mehr leisten. Besteht nicht die Gefahr, dass unsere Arbeit durch die Tools stressiger wird?

Die Anwendung von KI darf nicht dazu führen, dass Beschäftigte bei Routinearbeiten zwar unterstützt werden, aber dann die Erwartung entsteht, sie könnten noch mehr dieser Arbeiten erledigen. Das wäre keine Erleichterung, sondern eine Arbeitsverdichtung. Führungskräfte müssen sich deshalb Gedanken machen, was künftig die KI übernehmen soll – und was weiterhin der Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin. Diese Abstimmung kann etwa in Mitarbeitergesprächen stattfinden. Als Arbeitswissenschaftlerin muss ich zudem generell sagen: Die Lösung kann nicht sein, dass KI grundsätzlich alle Routinearbeiten übernimmt.

Warum nicht?

Weil unser Arbeitsalltag immer aus einem Mix aus einfachen und schwierigen, komplexen Aufgaben bestehen sollte. Wir brauchen diese Abwechslung, um unser Gehirn einerseits zu entlasten und andererseits Erfolgserlebnisse zu haben. Deshalb müssen Führungskräfte lernen, wie sie beim Einsatz von KI gleichzeitig gute Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten schaffen. Das wird aktuell noch viel zu wenig berücksichtigt.

Wie also wird KI die Arbeit in Zukunft verändern?

Dafür bräuchte ich eine Glaskugel, eben weil sich die Technologie so schnell entwickelt. Aber wenn wir uns die Trends der Vergangenheit anschauen, dann werden viele neue Tätigkeiten entstehen. Wenn wir die Arbeit mit KI gut gestalten, wird diese Technologie die Arbeit produktiver, sicherer und auch gesünder machen.

Anja van Marwick-Ebner
aktiv-Redakteurin

Anja van Marwick-Ebner ist die aktiv-Expertin für die deutsche Textil- und Bekleidungsindustrie. Sie berichtet vor allem aus deren Betrieben sowie über Wirtschafts- und Verbraucherthemen. Nach der Ausbildung zur Steuerfachgehilfin studierte sie VWL und volontierte unter anderem bei der „Deutschen Handwerks Zeitung“. Den Weg von ihrem Wohnort Leverkusen zur aktiv-Redaktion in Köln reitet sie am liebsten auf ihrem Steckenpferd: einem E-Bike.

Alle Beiträge der Autorin