Rheine. Freitags lädt Jessica Burwin zum Workshop ein - pünktlich zum Schichtwechsel beim Textilunternehmen Kettelhack in Rheine. Auf der Agenda steht dann: Nachhaltigkeit!
Während andere Kollegen sich mental schon aufs Wochenende vorbereiten, klärt die Nachhaltigkeitsmanagerin die Teilnehmer zwei Stunden über Themen wie Klimawandel, Ressourcenknappheit, Konsum oder Menschenrechte auf. „Da mute ich den Kollegen zunächst einiges an Theorie zu“, gibt Burwin zu.
Es folgt die Praxis: „Wir haben Vorträge über Mikroplastik gehört, in Gruppen Quizfragen gelöst, und jeder hat Wochenaufgaben bewältigt: Eine Woche auf Fleisch verzichten oder verpackungsfrei einkaufen.“ Mit den Teilnehmern des ersten Workshops 2017 fuhr Burwin ins Klimahaus nach Bremerhaven, 2018 organisierte sie einen konsumkritischen Rundgang durch Rheine – mit Besuch bei der Verbraucherzentrale und einem Repair-Café.
In einem anderen Segment des Workshops spielten die Teilnehmer ein Computerspiel, das zeigt, wie internationale Klimapolitik funktioniert und welche Auswirkungen Handeln oder eben Nicht-Handeln haben kann. Nach einem halben bis dreiviertel Jahr und sieben Terminen waren sie dann Nachhaltigkeitsbotschafter.
„Aus dem Workshop habe ich für mich vor allem mitgenommen, wie viel man selbst zum Guten verändern kann“, sagt etwa Ferit Sabahoglu. Der Warenkontrolleur entschied sich nach dem Seminar dafür, sein Auto für den Arbeitsweg stehen zu lassen, und radelt jetzt mit dem Fahrrad zur Arbeit. Und Kollege Andreas Gliese geht in seinem Job als Produktveredler mittlerweile viel bewusster mit Ressourcen um: Weil ihm klar geworden sei, wie schlecht es dem Planeten schon gehe, sagt er.
Burwin hat es geschafft, das sperrige Thema Nachhaltigkeit in den Arbeitsalltag ihrer Kollegen einzubauen. „Ich wollte niemandem sagen, wie er seine Arbeit zu erledigen hat. Mir war ein Grundverständnis wichtig.“ Schon als sie 2016 bei dem Hersteller von Textilien für Berufskleidung, Hotellerie und Pflege anfing, fand sie dort eine große Offenheit für das Thema Nachhaltigkeit vor: Kettelhack war schon Mitglied im Textilbündnis, die Produkte waren Oeko- Tex-zertifiziert. „Und es gab viele kleinteilige Aktionen im Unternehmen, die aber mit dem Thema Nachhaltigkeit nicht verknüpft waren“, so Burwin.
Sie setzte ein Umweltmanagementsystem auf, in dem Stoff- und Energieströme erfasst werden und verwirklichte die Idee eines Umwelt- und Nachhaltigkeitsberichts, mit dem das Unternehmen heute regelmäßig Kennzahlen über seine Verbräuche veröffentlicht. Und es passierte noch mehr. „Wir wollten das Thema nicht nur nach außen tragen. Unsere Devise war zunächst: Wir kehren erst mal vor unseren eigenen Türen“, erinnert sich Burwin. So entstand die Idee der Nachhaltigkeitsbotschafter.
Es reden jetzt Kollegen miteinander, die vorher kaum oder keine Berührungspunkte hatten
„Ich wollte damit auch Vorbehalte abbauen, um meine Arbeit zu rechtfertigen. Der beste Weg dafür ist, die Kollegen aufzuklären und ihnen zu vermitteln, was Nachhaltigkeit im Betrieb und in ihrem eigenen Arbeitsalltag bedeutet.“ Dafür holte sie vom Auszubildenden bis zum Geschäftsführer Jan Kettelhack Mitarbeiter aus allen Unternehmensbereichen in die Workshops.
Angenehmer Nebeneffekt: „Es haben sich abteilungsübergreifende Netzwerke gebildet. Plötzlich redeten Kollegen auf dem Flur miteinander, die sonst kaum oder gar keine Berührungpunkte hatten“, erinnert sich Burwin.
29 der 100 Mitarbeiter sind jetzt Nachhaltigkeitsbotschafter, und es ist eine nachhaltige Unternehmenskultur entstanden. Vorteil für Burwin: „Ich habe jetzt Kollegen, die Ideen zur Nachhaltigkeit entwickeln und damit auf mich zukommen.“
Die 32-Jährige sieht die Botschafter auch als Signal: Man wolle zeigen, wie ein mittelständisches Unternehmen sich mit dem Thema auseinandersetzen kann und dass sich das lohne. Kurz gesagt: „Wir wollen Vorbild sein.“
Nachgefragt
Wie kamen Sie zu Ihrem Beruf?
Ich habe Industriekauffrau gelernt und bin 2011 während meines Studiums für zwei Semester nach China gegangen. Dort begegnete mir das erste Mal das Thema Nachhaltigkeit. Danach habe ich Nachhaltigkeits-Ökonomie studiert.
Was reizt Sie am meisten?
Daran mitzuarbeiten, wie sich nachhaltiges Verhalten in allen Unternehmensbereichen durchsetzt – und so irgendwann selbstverständlich gelebt wird.
Worauf kommt es an?
Auf Geduld und Verständnis gepaart mit Teamwork.
Anja van Marwick-Ebner ist die aktiv-Expertin für die deutsche Textil- und Bekleidungsindustrie. Sie berichtet vor allem aus deren Betrieben sowie über Wirtschafts- und Verbraucherthemen. Nach der Ausbildung zur Steuerfachgehilfin studierte sie VWL und volontierte unter anderem bei der „Deutschen Handwerks Zeitung“. Den Weg von ihrem Wohnort Leverkusen zur aktiv-Redaktion in Köln reitet sie am liebsten auf ihrem Steckenpferd: einem E-Bike.
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