Wiesbaden. Immer mal wieder fährt Nadin Sewald mit dem Paternoster in ihr Büro. Bei diesem türlosen alten Fahrstuhl muss sie im richtigen Augenblick ein- oder aussteigen. Irgendwie eine passende Kulisse, dreht sich doch im Job der Wissenschaftlerin alles um ständige Auf- und Abbewegungen. Als Referentin für Preisstatistik arbeitet Sewald mit an einer zentralen Zahl unseres Wirtschaftssystems – der Inflationsrate.

aktiv hat die Fachfrau im Statistischen Bundesamt in Wiesbaden besucht, um sich das genau erklären zu lassen. Von außen kommt der 60er-Jahre-Bau ziemlich unscheinbar daher. In seinem Inneren arbeiten 1.700 Beschäftigte daran, Deutschland und die Welt mit wichtigen Fakten zu versorgen: mit amtlichen Daten aus Wirtschaft, Gesellschaft, Umwelt und Staat.

Eine der begehrtesten Zahlen aus der Behörde ist die Inflationsrate, auch Teuerungsrate genannt. Sie misst, wie sich die durchschnittlichen Preise für private Konsumgüter in Deutschland insgesamt im Vergleich zum Vorjahr verändern – von der Gurke über die Waschmaschine bis zu Strom und Miete.

Von der Inflationsrate hängen viele Entscheidungen ab

„Wir zeigen so Millionen Bürgern, ob das Leben teurer oder billiger geworden ist“, sagt Sewald. Im Juni betrug die Inflationsrate beispielsweise 1,6 Prozent. Das heißt, dass die Verbraucherpreise im Juni 2019 alles in allem um 1,6 Prozent höher lagen als im Juni 2018. Ganz einfach eigentlich. Und doch wirken etwa 90 Mitarbeiter in den Statistikämtern von Bund und Ländern daran mit, dass Monat für Monat die Inflationsrate für das Bundesgebiet und die Länder veröffentlicht werden kann.

„Davon hängen ja wichtige Entscheidungen ab, deshalb warten viele Akteure auf die neueste Zahl“, sagt Sewald. Zum Beispiel die Europäische Zentralbank: Sie strebt eine Inflationsrate von knapp unter 2 Prozent an und versucht, durch gezielte Geldpolitik diese Marke zu erreichen. „Und die Teuerungsrate hat auch unmittelbar Einfluss auf die Lebenswelt der Verbraucher“, betont Sewald. Zum Beispiel, wenn es um Unterhaltszahlungen geht – oder um Mieten, die in manchen Verträgen an die allgemeine Preisentwicklung gekoppelt sind. Nicht zuletzt ist die Inflationsrate auch nötig, um das „reale“ Bruttoinlandsprodukt zu errechnen – also die preisbereinigte jährliche Wirtschaftsleistung, die meistens steigt.

600 Preisermittler sind Monat für Monat unterwegs

Aber wie kommt diese wichtige Zahl nun überhaupt zustande? „Alles beginnt mit den Preisermittlern“, erklärt die 44-Jährige. Bundesweit arbeiten rund 600 Menschen haupt- oder nebenberuflich als Preisermittler. Monat für Monat schwirren sie aus und halten die Preise amtlich fest. Zusätzlich erheben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Statistikämtern von Bund und Ländern Preise hauptsächlich vom Schreibtisch aus und nutzen dafür das Internet oder Datenbanken.

„Wir zeigen so Millionen Bürgern, ob das Leben teurer oder billiger geworden ist“ (Nadin Sewald, Preisexpertin am Statistischen Bundesamt)

Die 600 mobilen Preisermittler sind mit Erfassungsgeräten oder Tablets ausgestattet und halten damit in Supermärkten, Discountern, Elektro- oder Bekleidungsgeschäften Preise fest. Zum Beispiel: ein Stück Butter einer bestimmten Marke mit einem bestimmten Gewicht – 1,59 Euro. Dieser Preis fließt in ein komplexes Computerprogramm – zusammen mit weiteren mehreren Hunderttausend Einzelpreisen aus 650 Kategorien!

Das System errechnet die Veränderungen der einzelnen Preise, aber auch die durchschnittliche Preisveränderung aller Güter und Dienstleistungen. So ergeben sich der Verbraucherpreisindex und die aktuelle Inflationsrate.

„Welche Produkte und Dienstleistungen in den Index gehören und wie stark sie jeweils gewichtet werden, bestimmt das Wägungsschema“, so Sewald. Die monatlichen Ausgaben für Wohnen und Energie haben zum Beispiel viel mehr Gewicht als die für Lebensmittel. Das Wägungsschema soll das durchschnittliche Ausgabeverhalten privater Haushalte widerspiegeln. Dafür werden unter anderem eigene Erhebungen der amtlichen Statistik genutzt: Ausgewählte Haushalte führen in regelmäßigen Abständen Buch über ihre gesamten Ausgaben. Und weil sich das Ausgabeverhalten im Laufe der Zeit verändert, wird das Wägungsschema alle fünf Jahre überarbeitet.

Statistisches Bundesamt Wiesbaden, im Foyer: Nadin Sewald und ihr Kollege Florian Burg.

Wie verlässlich ist das Ergebnis?

Und dann gibt es noch den sogenannten Warenkorb. Er repräsentiert sämtliche Privatausgaben für Waren und Dienstleistungen und wird ständig aktuell gehalten. Sewald: „Es gehen immer diejenigen Produkte in die Preisbeobachtung ein, die aktuell häufig gekauft werden. So wurden Güter, die mit der Digitalisierung zusammenhängen, bereits vor einigen Jahren aufgenommen. Hierzu zählen beispielsweise Musik-Stream oder E-Book-Reader.“

Ein gigantischer Aufwand also, ein penibler Rechenprozess – und am Ende ein Ergebnis für den typischen Durchschnittsverbraucher mit hoher gesellschaftlicher und politischer Bedeutung. Und wie wird die Verlässlichkeit der Ergebnisse gewährleistet? „Es gibt eine Reihe von automatisierten und manuellen Plausibilitätsprüfungen auf dem Weg zur amtlichen Inflationsrate“, sagt Sewalds Kollege Florian Burg. „Wir arbeiten zudem nach dem Preisstatistik-Gesetz und müssen umfangreiche EU-Vorschriften beachten.“

Die Methode wird ständig weiterentwickelt

Seit über 70 Jahren gibt es die Preisstatistik nun schon. Eine traditionsreiche Erhebung, in der geballtes Expertenwissen steckt. Dennoch wird die Methode immer weiterentwickelt. Denn längst sind nicht mehr alle Produkte nur in Geschäften zu finden. Die Preise im Online-Handel werden seit 15 Jahren erhoben und fließen in die Statistik mit ein.

Aktuelle Herausforderung: „Die Preise im Internet schwanken stark, weil viele Händler sie regelmäßig ändern“, sagt Burg. „Die Preisermittler erfassen daher die Daten im Internet immer zur selben Tageszeit – und mit demselben Endgerät.“ Denn inzwischen hängen manche Preise sogar davon ab, ob man mit dem Smartphone oder am Computer bestellt.

Um häufig wechselnde Internetpreise in der Preismessung zu erfassen, werden auch moderne Verfahren angewendet – zum Beispiel das Web Scraping. Damit wird eine Vielzahl von Preisen zu beliebigen Zeitpunkten automatisch im Internet ausgelesen. Eine weitere neue Methode, die sich allerdings noch in der Testphase befindet, ist die Nutzung von Kassendaten des Einzelhandels, sogenannte Scannerdaten.

Ein Job mit Daten – aber auch mit Menschen

Tagtäglich Zahlen, Statistiken, Indizes und Charts – klingt nach einem Büroalltag im Elfenbeinturm, fernab vom normalen Alltag. Die Realität sieht anders aus: „Wir stehen in ständigem Kontakt mit den Nutzern unserer Daten“, sagt Sewald. Im Kundenservice der Behörde beantwortet die zweifache Mutter viele Fragen. „Oft sind langfristig laufende Zahlungen an die Preisentwicklung gekoppelt. Deswegen kontaktieren uns zum Beispiel Privatpersonen, Juristen oder Unternehmen, um Mieten, Betriebsrenten oder Unterhaltszahlungen korrekt anzupassen.“

Skeptische Stimmen hört sie heute selten – das war schon mal anders. „Bedenken und Misstrauen gegenüber der Inflationsrate waren bei der Einführung des Euro-Bargelds besonders groß“, erinnert sich Sewald. Damals hatte sie gerade ihre Stelle im Statistischen Bundesamt angetreten. Manche Preise stiegen einmalig deutlich an, etwa auf Speisekarten, der Euro wurde rasch als „Teuro“ verteufelt. Dass zugleich etwa die Mieten stabil blieben und Fernseher billiger wurden, fiel den meisten kaum auf.

„Im Moment sehen wir kaum Anzeichen für ein Vertrauensproblem“, sagt die Preis-Expertin. „Es sind schließlich amtliche Zahlen, das gilt schon als ein Gütesiegel – übrigens auch international.“