Lemgo. Es ist ein besonderer Handschuh, den die junge Ingenieurin Nissrin Arbesun Perez trägt. Darin steckt ein Ultraschall-Sensor, der mit der Kamera über ihrem Montageplatz kommuniziert: „So wird man Schritt für Schritt angeleitet, welche Bauteile man wie zusammenschraubt.“

Perez arbeitet in der „Smart-Factory OWL“ in Lemgo, die drei Großbuchstaben stehen für Ostwestfalen-Lippe. Es ist die Fabrik der Zukunft. Und der Handschuh ist ein Teil davon.

Bei jedem Griff in die Kisten mit Schrauben und Werkzeug leuchtet eine Lampe grün auf. Greift Perez mal daneben, wird es rot, und es piepst. Das soll Montagefehler vermeiden. Allerdings wird hier nicht wirklich produziert. Es geht vielmehr darum, den Handschuh zu testen. Schließlich entwickeln die Westfalen Dinge und Maschinen, die in den nächsten Jahren in den Fabriken Einzug finden dürften. Alles dreht sich um die Industrie 4.0 – eine technische Revolution, die immer mehr Unternehmen erfasst.

In ein paar Jahren werden wir unsere Werkhallen nicht wiedererkennen: Rohlinge wissen, wie aus ihnen ein Ventil wird. Die Bodengruppe von Autos steuert auf eigenen Rädern die Fertigungsstationen an. Beschäftigte mit Datenbrillen wechseln Ersatzteile. Und Handschuhe wie der von Perez erkennen Fehler. Experten versprechen sich von der Industrie 4.0 einen neuen Produktivitätsschub für die deutsche Wirtschaft.

Eröffnet wurde die Smart-Factory vor knapp einem Jahr, als gemeinsames Projekt der Hochschule Ostwestfalen-Lippe und des Fraunhofer-Anwendungszentrums Industrial Automation. Die lichte Halle ist gespickt mit Funksystemen, Kameras, Sensoren und Flachbildschirmen. Strom- und Druckluftversorgung sind im doppelten Boden versteckt. Die gesamten Kosten des Projekts beliefen sich auf 10 Millionen Euro.

Ob Miele, Phoenix Contact oder Weidmüller – sie alle nutzen das Know-how

In der Region sitzen viele Pioniere der Digitalisierung: zum Beispiel der Hausgeräte-Produzent Miele, der Automatisierungsspezialist Beckhoff oder die Elektrotechnik-Unternehmen Phoenix Contact und Weidmüller. Sie können in Lemgo ihre neuen Anlagen testen und optimieren lassen. „Wir haben sehr viele Kooperationspartner aus der Industrie“, berichtet Perez. „Auch solche, die untereinander konkurrieren.“

Über Steckmodule lassen sich hier Maschinen und Roboter zu einer komplexen Anlage zusammenschließen – so einfach wie die Maus per USB-Anschluss an den Laptop. Funketiketten an den Werkstücken teilen der Anlage mit, wohin etwas transportiert und wie es verarbeitet werden muss.

Gesteuert und überwacht wird die per Internet vernetzte Technik mit Smartphone und Tablet. Auch wenn das „Produkt“ nur ein kleiner „Eisbär“ aus Lego und der Ablauf noch nicht ganz reibungslos ist: Die Smart-Factory ist eine der modernsten Forschungsfabriken weltweit.

Robotern bringt sie bei, feinste Teile zu greifen. Ohne Zaun drumherum: Sensoren im gepolsterten Stahlarm hindern Robi daran, dem Menschen gefährlich zu werden. Selbstlernende Maschinen sollen ihr Verhalten beobachten und anhand der gesammelten Daten optimieren, um etwa Energie zu sparen.

Auch kleine Firmen können sich das Passende abschauen. Die Zukunftsfabrik bietet ihnen eine kostenlose Beratung an. Industrie 4.0. sei halt kein Standardprodukt, sagt Fraunhofer-Forscher Sebastian Robert: „Auch bedeutet dies nicht, dass man gleich seinen ganzen Betrieb umkrempeln muss.“ Die Unternehmen könnten schon mit „überschaubaren Investitionen“ die Qualität der Produkte oder die Effizienz der Fertigung erhöhen.

Läuft etwas falsch, vibriert das Armband

So halfen die Wissenschaftler einem Produzenten von Druckknöpfen für Verkehrsampeln (sogenannte Signalgeber), die Qualitätskontrolle zu verbessern. Ein Assistenz-System leitet den Mitarbeiter mit Bildern und Text an. Wenn dennoch etwas falsch läuft, vibriert ein spezielles Armband. „Betriebsräte, die uns besuchen, fürchten angesichts der vielen Kameras die totale Überwachung“, berichtet Robert. „Aber wir zeigen, dass es um Unterstützung geht. Gesichter werden zum Beispiel gar nicht erfasst, nur Hände.“ Er und seine Kollegen sind davon überzeugt, dass die intelligenten Systeme die Menschen nicht ersetzen, sondern ergänzen werden.

Zukunftsängste abbauen und die breite Öffentlichkeit umfassend informieren – deshalb ist die Fabrik der Westfalen für Interessenten zugänglich: Bislang zählte die Zukunftsschmiede rund 8.000 Besucher aus Hochschulen, Verbänden und Gewerkschaften sowie aus der Politik.

Aber auch jeder normale Bürger darf sich die Arbeit von morgen anschauen.

Termine und weitere Infos unter:
smartfactory-owl.de

Der lange Weg zur vierten industriellen Revolution

  • Industrie 1.0 (ab 1850): Mit der von James Watt stark verbesserten Dampfmaschine nimmt die Industrialisierung Fahrt auf. Die industrielle Revolution steigerte in nur sechs Jahrzehnten den Wohlstand auf das Zweieinhalbfache. So was hatte in der Zeit davor Jahrhunderte gedauert.
  • Industrie 2.0 (ab 1913): Ford führt das Fließband in die Industrie-Produktion ein. Die Massenproduktion macht nicht nur das Auto erschwinglich.
  • Industrie 3.0 (ab 1970): Rechner erobern die Fabriken. Schon bald übernehmen Roboter komplexe Aufgaben.
  • Industrie 4.0: Das Internet durchzieht derzeit immer mehr die Fabriken, Touchscreen und Datenbrille werden allgegenwärtig.