Wieder einer krankgeschrieben … Gefühlt klinken sich immer mehr Beschäftigte bei der Arbeit aus. Das Thema sorgt für Schlagzeilen: „Krankenstand auf Rekordhoch“ – so oder ähnlich titeln Zeitungen und Fernsehsender. Krankenkassen- oder Verbandschefs, Manager und Politiker fordern Gegenmaßnahmen, es wird heiß debattiert.

Im vergangenen Jahr ging der Krankenstand immerhin leicht von 5,5 auf 5,4 Prozent der erwerbstätigen Versicherten zurück. Das meldete jedenfalls gerade die drittgrößte Krankenkasse DAK. Doch die Fragen bleiben: Was ist denn da los bei uns? Sind die Deutschen auf einmal kränker als früher? aktiv erklärt wichtige Punkte.

Ist die arbeitende Bevölkerung tatsächlich mehr krank?

Definitiv. Als 2022, nach dem Ende der Corona-Pandemie, Kontaktbeschränkungen und Maskenpflicht aufgehoben wurden, kam es „zu einem sprunghaften Anstieg des Krankenstands“ auf ein erhöhtes Niveau, wie Jochen Pimpertz erklärt, Gesundheitsexperte im Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Ursache: vermehrte Erkrankungen der Atemwege. Hintergrund: Nach Lockdowns und Maskenpflicht war bei vielen Menschen die Immunabwehr gegen Viren geschwächt. Die Hausärzte registrierten in den ersten beiden Nach-Corona-Jahren 20 Prozent mehr Atemwegserkrankungen. 2022 gab es unter den gesetzlich Krankenversicherten 32,6 Millionen Erkrankte, so das Zentralinstitut der Kassenärzte. Unklar ist, wann die Menschen wieder so immun gegen Viren sind wie vor Corona.

Erklärt das schon die Entwicklung – oder gibt es andere Gründe?

Da ist ein statistischer Effekt sehr wichtig. Erst seit Mitte 2022 gehen die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen der Ärzte elektronisch an die Krankenkasse. Zuvor musste der kranke Beschäftigte den gelben Zettel selbst per Post an die Krankenversicherung schicken – das passierte aber vielfach nicht, gerade bei kürzeren Ausfällen. Jetzt wird alles digital gemeldet, die Kassen erhalten dadurch verlässlichere Zahlen. Die Krankenkasse DAK und das Berliner Institut IGES haben das für 2,4 Millionen Erwerbstätige untersucht: Demnach könnte allein die Umstellung auf die elektronische Krankmeldung für 60 Prozent und mehr der höheren Fehltage verantwortlich sein – die Quote schwankt aber je nach Diagnose.

Spielt auch der demografische Wandel eine Rolle?

Durchaus. In alternden Belegschaften ist zum Beispiel damit zu rechnen, dass öfter Muskel- und Skeletterkrankungen auftreten, die langwierige Genesungsprozesse nach sich ziehen. Pimpertz: „Das ist möglicherweise mit ein Grund dafür, dass die Krankenstände seit Mitte der 2000er Jahre latent gestiegen sind.“ Fakt ist: 60- bis 64-jährige Männer legen laut BKK-Statistik im Schnitt an 35 Tagen ein Attest vor. Sie sind damit doppelt so lang krank wie ihre 25- bis 34-jährigen Kollegen. Bei den Frauen ist der Unterschied ähnlich groß.

Jeder Ausfall kostet die Betriebe Geld. Welche Beträge kommen da zusammen?

2023 mussten die Arbeitgeber knapp 77 Milliarden Euro für die Entgeltfortzahlung erkrankter Beschäftigter und die darauf anfallenden Sozialversicherungsbeiträge aufbringen. Das hat das IW errechnet. Damit haben sich die Kosten der Lohnfortzahlung in den letzten fünf Jahren um mehr als ein Fünftel erhöht!

Natürlich beeinträchtigt Krankheit auch den Output. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin kalkuliert, dass allein 2023 Produktion im Wert von 128 Milliarden Euro durch Fehltage ausfiel. Das entsprach immerhin 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Welche Branchen sind besonders stark betroffen?

Besonders viel krank waren zuletzt die Mitarbeiter in der Altenpflege. Sie kommen laut BKK-Dachverband im Schnitt auf 39 Fehltage. In Textiltechnik und -produktion waren es knapp 38 Tage, in Keramikfabriken gut 36. BKK-Mitglieder in Kunststoff- und Kautschukbetrieben sowie in der Metallerzeugung kommen auf 33 Tage. Mit nur acht bis zehn Tagen waren Wissenschaftler, Entwickler und Manager im Jahr 2023 am wenigsten krank. Das lässt sich wohl so zuspitzen: Je weniger körperliche Arbeit gefordert ist, desto geringer ist der Krankenstand.

Welche Krankheiten führen zu besonders langen Ausfällen?

Viel Zeit zum Gesundwerden brauchen Menschen mit psychischen Erkrankungen. Sie waren laut BKK-Statistik fast 38 Tage im Jahr krankgeschrieben. Menschen mit Muskel- und Skelettleiden, Vergiftungen und Verletzungen oder Herz-Kreislauf-Krankheiten fielen dagegen „nur“ 19 bis 22 Tage aus.

Welche Vorschläge kursieren jetzt? Was ist davon zu halten?

Die Forderung nach einem „Karenztag“, mit dem die Entgeltfortzahlung erst ab dem zweiten Krankheitstag beginnen würde, dürfte sich politisch kaum durchsetzen lassen. Gleiches gilt für eine niedrigere Lohnfortzahlung.

Unbedingt etwas tun sollte die nächste Regierung jedoch gegen Online-Plattformen, die mit wenigen Klicks Krankschreibungen verticken. „Solchen Missbrauch müssen wir stoppen“, fordert etwa Handwerkspräsident Jörg Dittrich. 8 Prozent der Beschäftigten machen laut DAK-Umfrage ab und an blau. Das kann im Zweifel den Job kosten! Denn es geht ja direkt auch zulasten der großen Mehrheit, die sich täglich im Betrieb einsetzt.

Hans Joachim Wolter
aktiv-Redakteur

Hans Joachim Wolter schreibt bei aktiv vor allem über Klimaschutz, Energiewende, Umwelt, Produktinnovationen sowie die Pharma- und Chemie-Industrie. Der studierte Apotheker und Journalist begann bei der Tageszeitung „Rheinpfalz“ in Ludwigshafen und wechselte dann zu einem Chemie-Fachmagazin in Frankfurt. Wenn er nicht im Internet nach Fakten gräbt, entspannt er bei Jazz-Musik, Fußballübertragungen oder in Kunstausstellungen.

Alle Beiträge des Autors