Mainz. Unser „Bobbele“, Ex-Tennisstar Boris Becker: pleite?! Das ist süffiger neuer Gesprächsstoff zu einem uralten Thema, das viele ganz schnell auf die Palme bringt: Armut im reichen Deutschland.

Aber wer gilt überhaupt als „arm“ – zählt dazu etwa schon jeder Zahlungsunfähige? Wie wird Armut sinnvoll gemessen? Und wie verbreitet ist sie tatsächlich bei uns? AKTIV hat über das Reizthema mit einem Mann gesprochen, der die Sozialstruktur der Bundesrepublik so gut kennt wie kaum ein anderer, mit dem Mainzer Soziologieprofessor Stefan Hradil.

1. Warum ist Armut so schwer zu messen?

Sehr selten, aber manchmal doch gibt es auch bei uns Armut im Sinne von nackter materieller Not. Um die geht es aber in der politischen Diskussion meistens gar nicht. Sondern um eine „Armut“, die viel mehr Menschen betrifft und sie von vielem ausschließt. Die Indikatoren, die dafür gemeinhin herangezogen werden, beleuchten aber nur einen Teil der Wirklichkeit. „Und die Messmethoden haben teilweise gewaltige logische Probleme“, konstatiert Experte Hradil.

Zum Beispiel: der Anteil derjenigen, die auf Sozialleistungen angewiesen sind. Diese „Mindestsicherungsquote“ hat als Armutsindikator ihre Tücken. Professor Hradil spitzt es so zu: „Wenn der Sozialminister dem Finanzminister einige Millionen mehr für Sozialleistungen abtrotzt, um Armut zu bekämpfen, und mehr Menschen Leistungen erhalten, dann steigt die Zahl der so gemessenen ,Armen‘ sogar noch.“

Ein weiterer Indikator: die „Armutsrisikoquote“. Sie gibt an, welcher Anteil der Bevölkerung weniger als 60 Prozent vom „mittleren bedarfsgewichteten Nettoeinkommen“ hat. Im Jahr 2015 lag die Schwelle für einen Single laut amtlicher Sozialberichterstattung bei 942 Euro (nach Steuern und Sozialleistungen). Dieser Indikator wird oft einfach als „Armutsquote“ bezeichnet. Und ihre Berechnung ist fragwürdig: Hätten beispielsweise alle doppelt oder dreimal so viel Geld, bliebe die Quote genau gleich. „Sie ist eben ein Ungleichheitsmaß – kein Armutsmaß“, betont Hradil. „Nach dieser Logik hätte es in der DDR praktisch gar keine Armut gegeben, obwohl es den Rentnern wirklich schlecht ging. Denn die Einkommensabstände waren gering.“

Ähnliche Probleme ergeben sich, wenn man andere einzelne Gradmesser für Armut betrachtet – etwa Vermögen, Verschuldung oder Berufstätigkeit. Soziologen wiederum machen Armut grundsätzlich daran fest, ob jemandem die „Teilhabe an der Gesellschaft“ möglich ist. Geld spiele da zwar eine wichtige Rolle, sagt Soziologe Hradil, aber auch andere Dinge. Etwa, wie jemand mit Geld umgehen kann: „Wer rational und sparsam wirtschaftet, ist beispielsweise weniger von Armut bedroht als jemand, der sich leicht zu Impulskäufen hinreißen lässt oder dem Alkohol zuspricht.“

So führt der eine mit relativ wenig Einkommen ein zufriedenes und erfülltes Leben, zum Beispiel ein Student oder auch ein Rentner – und der andere treibt in den Ruin, weil er sich etwa über seine Möglichkeiten verschuldet.

2. Warum interessiert uns das überhaupt?

„Beim Thema Armut“, so Hradil, „geht es um sozialstrukturell angelegte Interessensgegensätze, die im Grunde uralt sind – es gab sie schon im Mittelalter.“ Das heißt: Wo es Unterschiede gibt, gibt es automatisch auch Ungerechtigkeitsempfinden. Nicht nur über das Ausmaß der Armut werde seit Jahrhunderten gestritten, sondern auch über das Verhalten der Betroffenen: „Die einen fordern mehr Hilfen, die anderen meinen, Arme seien selbst schuld.“ Zum Glück sei die Lage bei uns nicht mehr so brisant wie etwa in den 90er Jahren: „Wir leben seit etwa zehn Jahren in einer Hochkonjunktur mit ständig sinkender Arbeitslosigkeit“, sagt der Experte.

Warum das Thema trotzdem regelmäßig hochkocht? Hradil meint: „Der Diskurs wird wachgehalten von Organisationen, die daran interessiert sind, Sozialverbände zum Beispiel.“

3. Was tut der Staat, um zu helfen?

Deutschland gehört weltweit zu den Industrieländern, die am meisten Geld von Reich zu Arm umverteilen. Das zeigt der Gini-Koeffzient, die international gebräuchlichste Zahl für messbare Ungleichheit: Sie wäre bei absoluter Gleichheit 0,0 – und sie wäre 1,0, wenn einer alles besitzt und alle anderen nichts.

Betrachtet man nun einfach die Bruttoeinkommen vor Steuern, staatlichen Hilfen und gesetzlichen Renten, liegt der Wert des Gini-Koeffizienten hierzulande bei rund 0,5. Wegen der kräftigen Umverteilung durch unseren Sozialstaat fällt er aber netto auf unter 0,3, also fast auf die Hälfte! Die Netto-Ungleichheit ist bei uns zwar höher als in den 70er Jahren – aber immerhin nun schon seit dem Jahr 2005 stabil. Und sie ist etwas geringer als im Durchschnitt der wichtigsten Industrieländer. Der Staat unterstützt also viele Menschen mit viel Geld – doch nicht immer kann das alleine helfen.

Hradil gibt zu bedenken: „Es gibt zum Beispiel Wohnviertel, wo die meisten Menschen von staatlicher Hilfe leben.“ Dort lernten häufig schon Kinder, lieber nach hohen Sozialleistungen zu streben als nach schulischem Erfolg – einfach, weil sie durch das Umfeld so sozialisiert würden. „Mit Geld ist es bei solchen Familien nicht getan. Da sind vor allem auch menschliche Hilfe und Beratung gefragt.“

4. Besteht aktuell Grund zur Sorge?

Weil sich das Armutsausmaß schlecht mit einem einzelnen Indikator messen lässt, hat das Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) einen „multidimensionalen Armutsindex“ entwickelt. Er berücksichtigt neben Einkommen und materieller Entbehrung auch Bildung, Gesundheit, Erwerbstätigkeit, Unterkunft und Wohnumfeld. Ermutigend: Nach diesem Index ist das Ausmaß der Armut bei uns von 2008 bis 2015 um fast 8 Prozent zurückgegangen.

Auch Hradil sieht es so, dass sich das Armutsproblem ein Stück weit relativiert: Das Jobwunder bringe immer mehr Menschen in Lohn und Brot, sogar aus dem harten Kern der Langzeitarbeitslosen. Die hohe Zuwanderung könne aber dazu führen, dass es wieder mehr Hilfsbedürftige gibt: „Weil viele Flüchtlinge erst einmal in Armut leben.“