Schkopau. Ein Reifen, zwei stolze Wissenschaftler: Marlen Malke (34) und Ulrich Wendler (51) präsentieren diesen Lkw-Reifen, als hätten sie den Gummi neu erfunden. Und in der Tat – das haben sie auch!
Freilich nicht alleine. Eine Vielzahl von Forschern aus fünf Fraunhofer-Instituten war unter Leitung von Wendler am Projekt „Bisyka“ beteiligt, das steht für „biomimetischer Synthesekautschuk“. Und dieser die Natur kopierende Kautschuk ist sogar noch etwas besser als Naturkautschuk.
Das sorgt in der Fachwelt für Aufsehen, denn bisher konnte kein synthetisch hergestellter Kautschuk in Sachen Abrieb mit dem Produkt aus dem Saft des Kautschukbaums mithalten. Deshalb bestehen die Laufflächen von Reifen schwerer Lastwagen größtenteils aus dem Naturprodukt.
Das Prüflabor Nord testete das neue Material
Doch das könnte sich demnächst ändern! „Im Praxistest weisen Reifen mit unserem Synthesekautschuk 30 bis 50 Prozent weniger Abrieb auf sowie einen geringeren Rollwiderstand als Vergleichsreifen mit Naturkautschuk“, berichtet Projektleiter Wendler, Chef der Polymersynthese am Fraunhofer-Pilotanlagenzentrum (PAZ) im sachsen-anhaltinischen Schkopau.
Für diesen Test hatte das Team 30 Kilogramm Bisyka produziert und daraus Laufflächen von Autoreifen fertigen lassen. Das unabhängige Prüflabor Nord testete das Material an einem Auto, das mit den Reifen 1.400 Kreise fuhr. Während die Naturkautschuk-Reifen nach dem Test je 850 Gramm leichter waren und 0,94 Millimeter Profil verloren hatten, waren es bei den Bisyka-Reifen nur je 600 Gramm und 0,47 Millimeter.
Kautschuk aus Löwenzahn wurde bis ins letzte Molekül analysiert
Wie haben die Forscher das erreicht? Sie haben dazu Kautschuk aus Löwenzahn bis ins letzte Molekül analysiert. Der besteht wie Baumkautschuk zu 95 Prozent aus dem Kettenmolekül Polyisopren, der Rest sind Biokomponenten wie Eiweiße und Fette.
Dann folgte jede Menge Fleißarbeit: „Schritt für Schritt haben wir die Erzeugung bestimmter Biokomponenten in der Pflanze ausgeschaltet, um so deren Einfluss auf die Eigenschaften des Kautschuks herauszufinden“, berichtet Chemikerin Malke.
Der Vorteil des Löwenzahns dabei: Mit ihm geht das recht schnell, weil es von einer Generation zur nächsten nur drei Monate braucht. Beim Kautschukbaum sind es sieben Jahre.
In Brasilien vernichtet ein Pilz ganze Kautschuk-Plantagen
Auf diesem Weg identifizierten die Wissenschaftler die für das optimale Abriebverhalten wichtigen Biokomponenten. Aus diesen Biomolekülen und hochreinem Polyisopren synthetisierten sie dann Bisyka-Kautschuk. Zunächst im Labor wenige Gramm, dann 100 Gramm, dann zwei Kilo. Und schließlich im Reaktionskessel des Technikums in Schkopau 30 Kilo für die Versuchsreifen.
Die erste Idee für den neuen Synthesekautschuk entstand 2013, einige Zeit später wurde das Projekt mit einem einstelligen Millionenbetrag binnen drei Jahren umgesetzt. Hintergrund der cleveren Forscheridee sei ein ernstes Problem, erklärt Malke: „In Brasilien, dem Ursprungsland des Kautschuks, vernichtet ein Pilz ganze Plantagen. Sollte der auch auf die wichtigen Anbaugebiete in Asien übergreifen, ist die Weltproduktion von Naturkautschuk bedroht.“
„Wir haben noch viele Ideen“
Ließe sich Bisyka-Kautschuk dann schnell im industriellen Maßstab herstellen? „Ein, zwei Jahre Vorlauf und eine größere Investitionssumme sind schon nötig“, meint Forscher Wendler. Aber für die Produktion könnten bestehende Anlagen genutzt werden.
Fertig ist der Wissenschaftler mit dem neuen Kautschuk aber noch lange nicht! Ob Biokomponenten-Mix, Herstellungsverfahren oder Gummimischung für die Laufflächen – „wir haben noch viele Ideen“, sagt Wendler. Kein Wunder also, dass das neue Material in der Industrie auf einiges Interesse stößt.
Nachgefragt
Wie kamen Sie zu Ihrem Beruf?
Der wurde mir quasi in die Wiege gelegt: Meine Eltern sind beide Chemiker und beschäftigten sich mit Polymerisation. Die hat mich auch in ihren Bann gezogen.
Was reizt Sie am meisten?
Ungeklärte Fragen und Probleme lösen. Die Suche nach dem richtigen Weg zu Lösungen ist dabei die Herausforderung.
Worauf kommt es an?
Teamarbeit! Unser Projekt zeigt das sehr schön: Einer allein kann kaum etwas ausrichten, im Team aber viel beitragen.
Die Fraunhofer-Gesellschaft
Kennzahlen eines Forschungsriesen:
- 2 Milliarden Euro steckt die Organisation jährlich in die Forschung.
- 72 Institute betreibt die Gesellschaft hierzulande.
- 25.300 Fachleute arbeiten dort an Lösungen für die Praxis.